Wolfgang Kubicki

Zur Rede des Vizepräsidenten der USA

Ganz unabhängig davon, ob man die Rede des US-amerikanisches Vizepräsidenten Vance gut oder schlecht findet: Er hat zumindest eine wichtige, richtungsweisende Rede gehalten. Und – nicht unwichtig: Er hat diese Rede in unserem Land gehalten. Deutschland ist traditionell sehr eng mit den Vereinigten Staaten verbunden und verdankt den Vereinigten Staaten die Befreiung und die Wiedereingliederung in die Staatengemeinschaft. Auch die Wiedervereinigung wäre ohne die Vereinigten Staaten sicher anders verlaufen.

Das sollten und das werden wir nicht vergessen. Denn wir wissen, welch Geschenk es war, in Zeiten des Kalten Krieges in Freiheit und in Frieden leben und aufwachsen zu können, unser Leben frei gestalten zu können und nach unserer Fasson glücklich zu werden.

Alles, was ich bin, konnte ich nur werden, weil die Voraussetzungen der Freiheit – die Demokratie, die Rechtstaatlichkeit und die soziale Marktwirtschaft – mir diesen Entfaltungsraum geboten haben. Dafür bin ich dankbar.

Und wir tun gut daran, sowohl gegenwärtig als auch künftig nicht noch mehr zur Spaltung beizutragen, uns nicht aus der Ferne über die sozialen Medien in Rechthaberei zu üben, sondern wieder einen Schritt aufeinander zuzugehen, und zu verstehen, was den anderen umtreibt und was wir gemeinsam tun können, um uns wieder auf festerem Boden zu begegnen. Wir waren vor einigen Jahrzehnten mal „Partner in Leadership“, wie es George Bush der Ältere formulierte. Wir sollten ein großes Interesse daran haben, dass das auch wieder so wird.

Und wenn man nun aus Deutschland erklärt, es wäre ungehörig, sich in innere Angelegenheiten zu mischen (zumal im Wahlkampf), dann ist da natürlich was dran. Und wenn erklärt wird, auch in den Vereinigten Staaten stünde es nicht immer gut um die Meinungsfreiheit – es würde Gefolgschaft verlangt, um den Golf von Mexiko den „Golf von Amerika“ zu nennen, dann ist da auch was dran. Und wenn wer sagt, zu unseren gemeinsamen Werten gehört auch die Beachtung der Gerichte, der Rechtsprechung, dann ist da ebenfalls etwas dran.

Aber es ist gleichsam Teil der Wahrheit, dass sich die deutsche Seite in der Vergangenheit keine entsprechenden Gedanken über eine ungehörige Übergriffigkeit gemacht hat, als der US-amerikanische Präsident von höchster Stelle als „Hassprediger“ (so Bundespräsident Steinmeier) bezeichnet wurde und seine Warnung vor einer zu großen Abhängigkeit von russischem Gas vom damaligen deutschen Außenminister Maas öffentlich verlacht wurde. Oder als die Kanzlerin 2019 an der Universität Harvard Donald Trump selbstgerecht in den Senkel stellte.

Meinen wir wirklich, die eigentlichen Hassprediger sitzen in der US-Administration, in der gewählten Vertretung einer der größten Demokratien der Welt? Meinen wir wirklich, wir hätten grundsätzlich bessere, tiefere Erkenntnisse als unsere amerikanischen Freunde?

Der Zeigefinger ziemt sich nicht, denn drei Finger richten sich dabei auf uns selbst.

Blicke ich auf die Rede des amerikanischen Vizepräsidenten, höre ich keinesfalls einen distanzierten, vielmehr höre ich einen entschlossenen Ton. Die Rede war nicht überraschend, sie formulierte die US-amerikanische Interessenlage in einer veränderten multilateralen Welt. Und die Rede habe ich auch als Appell an uns verstanden, manchen Irrweg der vergangenen Zeit endlich zu beenden.

Wir tun also gut daran, nicht gleich in selbstbewusst aussehende, aber faktisch ängstliche Beißreflexe zu verfallen, wenn kritische Worte an uns herangetragen werden. In der Politik, noch viel mehr in der Außenpolitik, geht es um Interessen und den Versuch des Ausgleichs. Es geht nicht um unsere Gefühle.

Wir sollten uns daher einmal selbst fragen: Was ist an diesen Feststellungen des amerikanischen Vizepräsidenten dran? Wollen wir hierauf mit selbstgerechtem Trotz, mit verschränkten Armen und ohne einen Anflug von Selbstzweifeln reagieren? Stehen wir also immer auf der historisch richtigen Seite, egal was passiert? Oder wollen wir zumindest einmal versuchen zu lernen, was unsere Freunde jenseits des Atlantiks von uns denken? Vielleicht liegen unsere Freunde falsch? Vielleicht können wir die Sorgen ausräumen, etwas gegen falsche Wahrnehmungen tun? Vielleicht aber treffen sie wenigstens im Ansatz einen Kern?

Und da stelle ich fest: Die Meinungsfreiheit ist auch aus meiner Sicht in Gefahr. Wenn 50 Prozent der Deutschen das Gefühl haben, sie könnten ihre Meinung nicht mehr frei äußern, dann gerät der Grundpfeiler unserer Freiheit ins Wanken.

Wenn staatliche Akteure erklären, wir müssten auch schon Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze verfolgen, dann ist das eine Grenzüberschreitung.

Wenn Meldestellen errichtet werden, die entsprechende Äußerungen dokumentieren, dann ist das eine Grenzüberschreitung.

Wenn Machtkritik im schlimmsten Falle zur Hausdurchsuchung führt, dann ist das eine Grenzüberschreitung.

Dann ist auch klar: So dürfen wir nicht weitermachen, sonst stürzt irgendwann unsere Freiheit ein. Wenn wir uns einig sind, dass wir etwas ändern müssen, um die Akzeptanz für die Demokratie wieder zu steigern, dann heißt es nicht, dass wir mehr Unverständnis für andere Positionen äußern sollten, dass wir noch lauter empört sein sollten oder noch ritualisierter ausgrenzen sollten. Im Gegenteil. Wir sollten vielmehr im öffentlichen und im politischen Diskurs endlich wieder Differenzierungen zulassen. Wir müssen die Mittelmäßigkeit der öffentlichen Debatte wieder zurückdrängen, Schwarz-Weiß-Denken unterlassen und den Diskurs wieder angstfreier gestalten.

Deshalb muss die Antwort „Akzeptanz“ heißen: Akzeptanz für das Andersartige. Mehr Toleranz nicht nur für andere Lebensweisen, sondern vor allem für andere Meinungen. Das Bundesverfassungsgericht stellte hierzu 2017 treffend fest:

„Das Grundgesetz geht davon aus, dass nur die ständige geistige Auseinandersetzung zwischen den einander begegnenden sozialen Kräften und Interessen, den politischen Ideen und damit auch den sie vertretenden Parteien der richtige Weg zur Bildung des Staatswillens ist. Es vertraut auf die Kraft dieser Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.“

Ich hoffe, wir sind uns einig: Gemessen an diesem Leitsatz haben wir in unserem Land selbst viel zu tun.

Die Moralisierung des öffentlichen Raumes führt am Ende zur Ideologisierung des öffentlichen Raumes. Das ist eine Abkehr von den Leitgedanken der Aufklärung. Eine Moralisierung führt am Ende zu einer faktischen Banalisierung der Politik, sie verhindert die Verbesserung des Lebens und die Lösung von Problemen.

Was haben wir also zu tun?

Die Aufarbeitung der Corona-Politik ist überfällig, das Land hat sich hiervon noch lange nicht erholt. Nicht nur „die“ Politik ist hier in der Bringschuld, auch die Gerichte, die Akteure aus der Wissenschaft und der Journalismus müssen ihr eigenes Tun entschlossen und vor allem selbstkritisch durchleuchten.

Selbstkritik ist ohnehin etwas, was uns gut anstünde. Wir müssen selbstkritisch sein, dass die vielen Aktionen gegen „rechts“, die vielen Steuergelder zur Bekämpfung des Rechtsextremismus, die wir seit Jahren aufwenden, die AfD nicht verhindert haben. Der Aufstieg der AfD ist vor allem durch eine fehlerhafte Flüchtlingspolitik begründet, der Mangel an ernsthafter Debatte über die Gefahren von zu viel ungesteuerter Migration. Und wer heute erklärt, es sei vordringlich, nach Anschlägen eine Demo gegen rechts zu machen, damit wäre die Aufgabe des Staatsbürgers erfüllt, der ist nicht mehr von dieser Welt.

Wenn das Gedenken um Terroropfer zurückstehen muss, um die vermeintliche Instrumentalisierung zu verhindern, dann instrumentalisieren diejenigen selbst die verständliche Empörung über Mordanschläge, um eigene Machtpolitik zu betreiben. Etwas Menschenverachtenderes kann ich mir nicht vorstellen. Denn es geht um unschuldige Menschen, nicht selten Kinder, auf deren Rücken eine politische Definitionshoheit behauptet werden soll.

Wir müssen ehrlich sein: In der Migrationspolitik seit 2015 haben wir es nie geschafft, unsere Zielbestimmung zu nennen. Das „Wir schaffen das“ ist das Ambitionsloseste, was man sich im politischen Raum vorstellen kann. Denn die Frage „wofür“, wurde nie beantwortet. Und trotzdem war dieser Merkel-Satz die migrationspolitische Leitlinie für viele – bis heute.

Auch in der Migrationspolitik gilt: Wir müssen unsere Interessen kennen, definieren und schließlich umsetzen wollen. Die Aussicht, dass es so weiter geht, dass Kinder in Schulen Scharia-Recht einführen, dass man sich beim normalen Gang durch den Park nicht mehr sicher fühlt, dass Juden im öffentlichen Raum bedroht werden, dass schwule Paare No-Go-Areas ausgesetzt sind, ist nicht meine Vorstellung von Freiheit. Darüber müssen wir endlich ohne Rücksicht auf politische Partikularinteressen streiten – und Lösungen finden.

Denn mit Demonstrationen werden wir irgendwann nicht mehr weiterkommen. Symbolpolitik ist das Gegenteil von Politik, es simuliert Politik, weil sie nur ein Bild zeichnet, das auf einer Fassade prangt. Zu erklären, man habe Haltung, führt am Ende zur Frage: Was folgt nun daraus?

J D Vance macht es sich zu einfach, als er die Beteiligung der AfD an politischen Lösungen anmahnte. Denn das demokratische Prinzip in Deutschland mit seinem latenten Zwang zur Kompromissfindung in Koalitionen unterliegt anderen Regeln als das Mehrheitsprinzip im US-amerikanischen demokratischen System. Und inhaltlich kann die AfD vieles nicht anbieten, was überhaupt diskutabel wäre: EU-Austritt, Nato-Austritt, Putin-Verherrlichung. Zudem bleibt die AfD in weiten Teilen eine rechtsextreme Partei – die mit Artikel 1 unseres Grundgesetzes nicht selten auf dem Kriegsfuß steht. Gerade mit Blick auf unsere Geschichte und unsere Verfassungsordnung haben wir Grenzen im politischen Umgang, die ich weiterhin für richtig halte – egal was man in Washington sagt.

Gleichwohl ist die Diskussion über die „Brandmauer“ oftmals verlogen. Schon deshalb, weil sie auf kommunaler und Landesebene überhaupt keine Rolle spielt. Wenn die Regierung Ramelow mehrfach Gesetze nur mit der AfD durchsetzen kann, dann ist die linke Empörung, man gehe „auf die Barrikaden“, armselig und heuchlerisch. Im praktischen Alltag ist diese Brandmauer auch durch linke Parteien durchbrochen. Der Kanzler hatte es doch unlängst erklärt: Wenn der eigene Vorschlag von der AfD unterstützt wird, wird er dadurch nicht schlechter. Es bleibt der eigene Vorschlag.

Wir tun gut daran, die Rede des Vizepräsidenten als Anlass zu nehmen, über unsere eigene Rolle nachzudenken. Selbstverständlich ist es ungehörig, uns in eine Reihe mit autokratischen Systemen zu stellen – das ist völlig unstrittig. Doch ich bin der Auffassung, wir müssen tatsächlich eine deutsche und eine europäische Vision erstreiten, in welchem Land und in welchem Europa wir leben wollen. Dieser Streit funktioniert nur mit Meinungsfreiheit.

Vance hat aus meiner Sicht hier Recht: Dieses Land und dieses Europa stehen am Scheidepunkt, nicht zuerst, weil sie herausgefordert werden durch externe Kräfte, sondern weil wir nicht aktiv und tiefgründig Selbstvergewisserung betreiben. Weil wir weder wissen, wo wir stehen, geschweige denn wissen, wohin wir gehen wollen. Das müssen wir ändern, denn nur auf einem eigenen festen Wertefundament können wir den Herausforderungen der Autoritären vernünftig entgegenwirken.