Wolfgang Kubicki

WELT-Interview: „Das weitere Vorgehen hängt nicht vom Willen der Kanzlerin ab“

Nun sinken die Inzidenzwerte vielerorts nicht mehr, im Gegenteil. Können wir uns angesichts dessen Lockerungen überhaupt leisten?

Es geht nicht um Lockerungen, schon das Wort ist falsch. Es geht darum, dass eine bestehende Einschränkung von Grundrechten aufgehoben werden muss, wenn bestimmte Inzidenzwerte erreicht sind. Und das haben wir in vielen Fällen. In Schleswig-Holstein gibt es mehrere Kreise mit Inzidenzwerten unter 20. Da kann man den Menschen nicht mehr erklären, warum immer noch alles geschlossen bleiben muss.

 

Sie plädieren also für regionale Lösungen?

Wir müssen uns an der Lage in den jeweiligen Landkreisen orientieren. Sinken dort die Sieben-Tage-Inzidenzen, gibt es ab einem bestimmten Punkt keinerlei rechtliche Grundlage mehr, ganzen Branchen Schließungen aufzuerlegen.

 

Bergen regionale Lockerungen nicht die Gefahr, dass das Virus weitergeschleppt wird? Schließlich sind die Menschen selbst in Coronazeiten mobil.

Das ist theoretisch denkbar, halte ich aber in der Realität nicht für problematisch. Menschen aus Hof fahren ja nicht zum Essen nach Schleswig. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits im April festgestellt, dass es regionale Unterschiede geben muss, wenn das Infektionsgeschehen unterschiedlich ist.

 

Wenn die Menschen so diszipliniert sind, wie Sie sagen, warum gehen dann die Infektionszahlen nicht mehr zurück?

Darauf kann Ihnen das Robert-Koch-Institut keine Antwort geben und ich auch nicht. Wir wissen nicht, wo sich die Menschen in ihrer Mehrheit anstecken. Nach über einem Jahr Pandemie ist das wirklich ein rechtsstaatlich unhaltbarer Zustand, weil an dieses Unwissen ja konkrete Grundrechtseinschränkungen geknüpft sind. Schon deshalb muss uns klar sein: Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Eine Zero-Covid-Strategie ist Unsinn und wäre nicht menschenwürdig zu gestalten.

 

Wie sollte ein wirksamer Stufenplan Ihrer Meinung nach aussehen?

Ich denke, wir haben mit dem Plan der Koalition aus CDU, FDP und Grünen in Schleswig-Holstein eine gute Vorlage geliefert. Bei Inzidenzwerten zwischen 50 und 100 dürften Kitas wieder öffnen und Grundschulen in den Wechselunterricht gehen. Bei Werten unter 50 kann der Wechselunterricht bis zur 6. Klasse aufgehoben werden, unter 35 dürfen Geschäfte, Restaurants und kulturelle Einrichtungen mit Einschränkungen wieder öffnen. Wir werden in Schleswig-Holstein ab 1. März auch körpernahe Dienstleistungen zulassen.  

 

Warum scheren Sie Geschäftsinhaber oder Betreiber kultureller Einrichtungen alle über einen Kamm. Warum darf der, der ein wirklich gutes Hygienekonzept hat, nicht eher öffnen, als einer, der gar nichts tut?

Man braucht ein effektives Hygienekonzept, um überhaupt öffnen zu dürfen. Nötig ist nun ein Stufenplan, wer wann öffnen darf. Das hat inzwischen ja sogar Bayerns Ministerpräsident Markus Söder verstanden. Der will nun endlich auch einen solchen Plan machen. Jetzt wird es spannend, ob sich die Länder auf bundesweit einheitliche Regelungen verständigen können.

 

Aktuell läuft in vielen Grundschulen Deutschlands der Präsenzunterricht wieder an. Wie erklären Sie es, dass Geschäfte geschlossen bleiben, während Schulkinder bei denselben Inzidenzwerten in die Klassenzimmer müssen?

Es ist absolut sinnvoll, die Grundschulen wieder zu öffnen. Es gibt dort natürlich Ansteckungen, aber das Infektionsgeschehen geht nicht von dort aus. Kinder und Jugendliche sind keine Spreader. Aber klar ist, dass in Landkreisen mit hohen Inzidenzwerten die Schulen vorerst geschlossen bleiben müssen. In Flensburg ist das zum Beispiel weiter der Fall.

 

Impfungen dürften für eine weitere Entspannung der Lage sorgen. Sollten Geimpfte wieder in stärkerem Umfang am öffentlichen Leben teilnehmen dürfen, als Ungeimpfte?

Zunächst ärgere ich mich sehr, dass wir nun Ende Februar haben und immer noch Impfchaos herrscht. Und das aufgrund der Unfähigkeit, genug Impfstoff zu bestellen und einen tragfähigen Impfplan zu erstellen. Was geimpfte Menschen angeht: Überall dort, wo von Menschen keine Gefahr mehr für die Gesundheit anderer ausgeht, sind Einschränkungen nicht mehr erlaubt. Das ist keine Frage von Privilegien, das schreibt das Grundgesetz so vor. Aber ich hoffe, wir brauchen darüber keine ausgedehnte Debatte zu führen, in wenigen Wochen werden die Impfzahlen stark angestiegen und die Inzidenzwerte hoffentlich weiter gesunken sein. Dann stellt sich die Frage nach den sogenannten Privilegien nicht mehr.

 

Da sind Sie aber optimistisch. Und es stellt sich die Frage, ob es angemessen ist, Geimpften von allen Einschränkungen auszunehmen, Ungeimpfte aber nicht. Viele können ja nichts dafür, nicht geimpft worden zu sein. Es gibt schließlich eine Impfreihenfolge.

Dass sich nahezu sämtliche Staats- und Verfassungsrechtler einig sind, dass eine solche Impfreihenfolge per Gesetz beschlossen werden müsste und nicht per Verordnung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn festgelegt wird, ist das eine. Das andere ist, dass man von Ungeimpften in dem von Ihnen beschriebenen Fall auch erwarten kann, dass sie Solidarität zeigen mit Geimpften. Es hat ja Gründe, warum manche vor anderen an der Reihe sind. Dass die meisten aufgrund des kläglichen Versagens der Bundesregierung länger auf ihre Impfung warten müssen, ist extrem ärgerlich, ändert jedoch an der Rechtslage nichts. Aber wie gesagt: Die Diskussion müssen wir wahrscheinlich nicht führen. Schon deshalb nicht, weil Geimpfte und Genesene ihren Status ja nachweisen müssten, zum Beispiel mittels eines digitalen Impfpasses. Und das wird nicht so schnell funktionieren, wenn man sich anschaut, wie groß das Impfchaos insgesamt ist.

 

Damit Geimpfte schneller wieder von Einschränkungen befreit werden könnten, müsste klar sein, dass sie niemanden mehr anstecken. Das wissen wir aber nicht. Wie gehen wir damit um?

Es stimmt, das wissen wir aktuell nicht. Aber es gibt ja Hoffnung. Laut einer neuen Studie aus Israel sind bis zu 90 Prozent der Geimpften nicht mehr ansteckend. Wir müssen abwarten, zu welchem abschließenden Ergebnis diese und andere Studien kommen.

 

Wann sind größere Veranstaltungen wieder möglich?

Wenn alle Hygienekonzepte eingehalten werden, die Menschen Masken tragen, gelüftet und nur ein Teil der Plätze belegt wird, denke ich ab Sommer. Und wenn es ein Alkoholverbot gibt.

 

Warum ist das so wichtig?

Weil nach Alkoholgenuss der Abstand zu anderen sinkt, man lauter und feuchter redet nach drei Bier. Das kennen wir doch alle.

 

Das Gespräch führte Nikolaus Doll.