Wolfgang Kubicki

Was die Politik von der "Sesamstraße" lernen kann

Foto Tobias Koch

„Selbstverständlich“, habe ich gesagt, als ich gebeten wurde, einen kleinen Essay über das wilde politische Treiben in der Bundeshauptstadt zu verfassen. Da ich einschlägige Erfahrungen aus der Bonner Republik mitbringe und deshalb auch von der wohligen Nestwärme dieser betulichen Stadt am Rhein berichten kann, ist es für mich vielleicht etwas einfacher, von den vor- und nachteiligen Wirkungen einer pulsierenden Metropole auf den politischen Betrieb zu erzählen.

 

Zunächst gestehe ich: Ich trage eine gewisse Mitschuld daran, dass heute an der Spree die politischen Entscheidungen getroffen werden. Bei der entscheidenden Abstimmung am 20. Juni 1991 stimmte ich für den Umzug in den Osten der Republik. Ich bedauere diese Wahl nicht grundsätzlich, denn kurz nach dem Mauerfall brauchten wir diese Veränderung auch zum leichteren Zusammenwachsen beider Landesteile. Philosophisch interessant aber unbeantwortet bleibt die Frage: Hätte sich das Land, hätten wir uns anders entwickelt, wäre Bonn die Hauptstadt geblieben?

 

Das Gute (und das Schlechte) an der Geschichte ist, dass sie irreversibel ist. Das, was getan wurde, kann man nicht mehr rückgängig machen. Was unterlassen wurde, kann man nicht mehr nachholen. Geschichte kann nur in der Gegenwart geschrieben werden. Manchmal gibt es nur einen kurzen Moment, in dem sich das Tor zur Geschichte öffnet. Und selbst wenn man zur richtigen Zeit durch dieses Tor schreitet, weiß man nicht einmal, ob das Pendel der nachweltlichen Betrachtung nicht irgendwann hart zurückschlägt.

 

Rufen wir uns in Erinnerung, dass vor einigen Jahren in manchen US-amerikanischen Städten Statuen von den Sockeln gestoßen wurden, weil sich die berühmten Persönlichkeiten in der Zeit ihres Wirkens nicht so verhalten haben, wie man es heute erwarten würde. Oder dass Bücher umgeschrieben werden, weil die damalige Kunst vor den heutigen Gefühlen zurückweichen muss. Denn den Inhabern der heutigen Gefühle ist es offensichtlich nicht zuzumuten, das künstlerische Werk in einen Gesamtzusammenhang zu betten, es als Zeitzeugnis zu verstehen oder gar zu respektieren. Vor diesem Hintergrund hoffe ich, dass nicht auch denjenigen irgendwann mit allzu gegenwärtiger Gnadenlosigkeit begegnet wird, die sich einst für Berlin als Parlaments- und Regierungssitz entschieden haben.

 

Denn, auch dies gestehe ich: Es gibt Schattenseiten der Hauptstadtmetropole. Bonn konnte zwar auch für manche erbarmungslos sein. Die erstickende Enge des politischen Betriebes hatte schon Wolfgang Koeppen in seinem „Treibhaus“ eindrucksvoll beschrieben. Berlin ist da anders, einerseits zum Glück offener, vielfältiger und bunter. Auf der anderen Seite aber deutlich steifer, verkrampfter und arm an Inspiration, besonders wenn man auf den journalistischen Betrieb der Hauptstadt blickt. Mir fällt auf, dass ausgerechnet diejenige geistige Elite, die von sich selbst glaubt, unvoreingenommen und ehrenhaft für die Wahrheit gegen den Strich zu bürsten, sich in bestimmten politischen Fragen erstaunlich konform, unkritisch und vorfestgelegt verhält. Erst kürzlich hat der Doyen des deutschen Investigativjournalismus Georg Mascolo eine selbstkritische Aufarbeitung der allzu regierungsfrommen journalistischen Arbeit am Komplex „Corona“ gefordert. Ich befürchte, Mascolos Worte verhallen ungehört. Selbstkritik ist die Sache des hauptstädtischen Journalismus nicht.

 

Ein- bzw. Gleichförmigkeit mag manchen Halt geben, dem Fortschritt dient das aber nicht. Vor ein paar Wochen war es zum Beispiel en vogue, die Freien Demokraten als „Dagegen-Partei“ zu charakterisieren. Die FDP sei gegen das Verbrennerverbot, gegen das Gasheizungsverbot, gegen das AKW-Verbot. Gegen Verbote zu sein, so die bestechende Folgerung, passe nicht in die Zeit und sei rückwärtsgewandt. Schließlich müsse die Welt gerettet werden. Freie Entscheidungen, die nicht an politische Vorgaben geknüpft sind, sind da wohl nicht hilfreich.

 

Ich versuche solchen Anwandlungen idealerweise mit Humor zu begegnen und verschickte in diesem Falle einen alten Sesamstraßen-Clip aus den 70ern. Dort erklärten Lulatsch und Krümel einem Jungen den Unterschied zwischen „hier“ und „da“. Der Junge wollte eigentlich immer „da“ sein, wurde aber jedes Mal, wenn er an seinem vermeintlichen Ziel angekommen ist, darauf hingewiesen, dass „da“ immer dort ist, wo er nicht ist. Die Empfänger meiner Botschaft erkannten, dass es eine Frage des Standortes ist, wo „hier“ und „da“ ist – genauso wie bei „dafür“ und „dagegen“. Man kann gleichzeitig für die Beachtung der Grundrechte sein, aber dagegen, wenn es darum geht, Grundrechte begründungslos einzuschränken. Mit Hilfe der Sesamstraße ist es nicht schwer, dies zu verstehen.

 

Mein Problem ist nicht, dass den Freien Demokraten das Narrativ der klimapolitischen „Dagegen-Partei“ zugeschrieben wurde. Unsere Wählerinnen und Wähler machen ihr Kreuz dankenswerterweise nicht von Ratschlägen Berliner Zirkel abhängig. Das Problem ist eher, dass es manchen gutsituierten Influencer-Milieus im hauptstädtischen Berlin nicht auffällt, dass es bei den Menschen im Land eine klimapolitische Belastungsgrenze gibt. Diese sollte möglichst nicht überschritten werden, wenn man die Akzeptanz für entsprechende Maßnahmen weiter aufrechterhalten will. Das Berlin der Lastenräder ist manchmal weit weg von den Lebenswelten der übrigen Bundesbürger. Wer meint, ohne Rücksicht auf Verluste allen Menschen im Land das eigene Lebensmodell überstülpen zu müssen, wird am Ende erleben, dass sich die Menschen in Mehrheit für ein „Dagegen“ aussprechen werden. Dann ist unwichtig, welche semantischen Überlegungen man zuvor in Bezug auf „Dafür“ und „Dagegen“ hatte. Denn dann sind in den Augen der Mehrheit jedenfalls die Influencer der Bundeshauptstadt in der „Dagegen-Partei“