Wolfgang Kubicki

Warum zu viel Rücksichtnahme auf Politiker falsch ist

Wolfgang Kubicki
Foto Tobias Koch

Am vergangenen Donnerstag mahnte Georg Mascolo an dieser Stelle eine Aufarbeitung der Corona-Politik der vergangenen drei Jahre an. Er sah hierin die einmalige Chance, die vielfältigen und leidvollen Erfahrungen mit der „Jahrhundertkatastrophe“ zu nutzen, um für kommende Zeiten bessere, präzisere und grundrechtsschonendere Antworten geben zu können. Eine solche Aufarbeitung, so Mascolo, solle jedoch nicht unter politischem Dampf geschehen, sondern möglichst in einem ruhigen Setting stattfinden. Denn eine gelassene Manöverkritik, so die Schlussfolgerung, gewährleiste die genaue Prüfung, „was die Handelnden wussten oder wissen konnten, als sie ihre Entscheidungen trafen.“

               Georg Mascolo hat Recht, dass ein Aufarbeitungsprozess frühere coronapolitische Entscheidungen am damaligen Informationsstand messen muss. Es wäre maximal unredlich, wenn wir im Ton der Besserwisserei nachträglich über Maßnahmen richten würden, die auf wackeliger Datengrundlage gefällt wurden. Ich selbst halte die vom Deutschen Bundestag einstimmig beschlossene Änderung des Infektionsschutzgesetzes vom März 2020 unter den damals gegebenen Bedingungen für nachvollziehbar und vertretbar. Wir hatten in den ersten Tagen der Pandemie in Deutschland keine besseren Daten und keine besseren Lösungsvorschläge vorliegen. Vor dem Hintergrund der dramatischen Bilder aus Bergamo galt für uns zunächst: Retten, was zu retten ist.

               Es wäre allerdings etwas problematisch, wenn wir sämtliche Entscheidungen der bundesdeutschen Corona-Politik unter einen apologetischen Schutzschirm schieben würden. Haben wir es auch zu späteren Zeitpunkten in der Pandemie nicht besser gewusst? Und können wir jetzt bei Maßnahmen, die sich als schwerwiegende Fehler herausgestellt haben, nachträglich ohne Reue erklären: „Wir konnten es ja nicht ahnen“, ohne dabei wirklich verantwortlich zu sein?

               Als Karl Lauterbach im November davon sprach, Schulen und Kitas seien keine Infektionsherde und deren Schließungen „nach heutigem Wissen“ nicht nötig gewesen, dann klang das so, es hätte man es damals nicht besser wissen können. Das sollte im Rahmen einer Aufarbeitungsdebatte getrost in Zweifel gezogen werden. Denn es gab eine Vielzahl von Stimmen (der Autor dieser Zeilen gehörte dazu), die eine Abkehr von den Schließungen forderten, weil diese zu große soziale, gesundheitliche und bildungspolitische Kollateralschäden verursachten. Diese Stimmen wurden jedoch auch von Lauterbachs Vorgänger nicht einbezogen, sie wurden im öffentlichen Diskurs vielmehr als nicht relevant qualifiziert oder gar in den Bereich des Querdenkerischen geschoben. Lauterbachs Erklärung, „Wir wussten es nicht besser“, muss daher eigentlich lauten: „Wir meinten, es besser als andere zu wissen, lagen aber dramatisch falsch.“ Die Frage ist: Warum wurden diejenigen Stimmen, die richtig lagen, nicht gehört? War das die vielzitierte Furcht vor einer „false balance“?

               Das auch später vom Bundesverfassungsgericht benannte Diktum der „Entscheidung unter Unsicherheiten“ tendiert dazu, den Entscheidungsträger von seiner demokratischen Verantwortung zu entlasten. Es ist das tragende Element unseres demokratischen Rechtsstaates, dass es für jede Entscheidung Verantwortliche gibt. Deshalb ist es eigentlich geboten, so wie es der österreichische Verfassungsgerichtshof einst anmahnte, dass Entscheidungen unter Unsicherheiten einhergehen müssten mit der größtmöglichen Transparenz und mit der Offenlegung der Entscheidungsgrundlagen. Nur so sei für alle nachvollziehbar, warum sich der politisch Verantwortliche wie entschieden hat.

               In Deutschland mussten wir allerdings laufend feststellen, dass dies eben nicht geschah - diesen Umstand aber kaum jemanden bekümmerte. Das Kanzleramt von Helge Braun mauerte bei parlamentarischen Anfragen, wer bei welcher Corona-Expertenrunde welchen Vorschlag gemacht hat oder welche Corona-Maßnahme welchen Effekt erzielte. Und wir mussten erleben, dass die Datenunsicherheiten vom Robert Koch-Institut unter Lothar Wieler nicht aufgelöst, sondern über Jahre unbeirrt fortgeführt wurden. Schon im Februar 2021 maßregelte das OVG Lüneburg das RKI wegen der miserablen Daten, die die Akzeptanz möglicher Grundrechtseinschränkungen gefährde. Der Corona-Expertenrat zog anderthalb Jahre später ein ebenso desaströses Fazit. So entstand vielfach der Eindruck, dass sich die coronapolitische Kompetenz der Bundesregierung hauptsächlich darin erschöpfte, die härtesten Maßnahmen erdacht und durchgesetzt zu haben - ohne gleichzeitig zu wissen, ob sie den Zweck überhaupt erfüllten. Dass Angela Merkel und Helge Braun allein mit der Behauptung durchgekommen sind, harte Maßnahmen seien gleichzeitig auch wirkungsvoll, wirft überdies kein gutes Bild auf die journalistischen Beobachter dieser Krise, deren regulativer Einfluss oftmals fehlte.

               Ja, wir müssen über die Rolle der Bundesregierung in der Pandemiebekämpfung sprechen, wir müssen über das Nicht-Wirken des Robert Koch-Instituts und über die Rolle der Medien sprechen. Es wäre sicherlich ungerecht und dumm, „den“ Journalismus als Ganzes zu schelten. Allerdings habe ich die journalistische Distanz zum Gegenstand „Corona-Politik“, bis auf wenige Ausnahmen, vermisst. Vielmehr musste ich erleben, wie sich Journalisten selbst als Teil der Bewegung verstanden und dabei jedes professionelle Maß verloren haben. Das ging sogar so weit, dass mein Einsatz gegen die allgemeine Impfpflicht - auch von der „Süddeutschen“ - in die Nähe von Verschwörungstheorien, Rechtsextremisten und Reichbürgern gerückt wurde. Ich bin gleichwohl froh, dass ich mich mit anderen in dieser Frage durchsetzen konnte. Die Umsetzung dieser Pflicht hätte zu einer gesellschaftlichen Katastrophe geführt. Die apokalyptischen Szenarien der Lauterbachs und Dahmens im Hinblick auf diesen Winter haben sich übrigens nicht erfüllt.

               Georg Mascolos Beitrag ist wichtig, weil er die Bereitschaft zur Debatte zeigt. Er sieht aber offenbar nicht, wann sich die Lager so sehr verkapselten, dass es mit einer gelassenen Manöverkritik heute nicht mehr getan ist. Als Menschen aufgrund einer freien Entscheidung am öffentlichen Leben nicht mehr teilhaben durften, als Ungeimpft-Sein nicht mehr zum gleichberechtigten Dasein qualifizierte, erlebten wir einen Paradigmenwechsel. Die euphemistische Erklärung, 2G sei ein Anreiz, sich impfen zu lassen, war in Wahrheit die offene Drohung mit einer gesellschaftlichen Ausgrenzung.

               So sehr ich die Intention teile, die Corona-Politik und ihre Auswirkungen auszuleuchten, so sehr bin ich skeptisch, dass eine Aufarbeitung unter dem Eindruck verständnisvoller Streicheleinheiten vonstattengehen kann und sollte. Neben einer parlamentarischen Aufarbeitung, die mindestens im Rahmen einer Enquete-Kommission stattfinden muss, muss es eine breite gesellschaftliche Debatte geben, um Verletzungen sichtbar zu machen, damit Heilung erst möglich wird. Vor allem viele Journalisten müssen sich selbstkritisch fragen, ob sie vielleicht zu sehr einer Twitter-Logik der Schwarz-Weiß-Malerei nachgegeben haben und Stimmen abseits des als richtig behaupteten Mainstreams in die Unwertecke gestellt haben. Warum war gerade bei Journalisten, die von sich behaupten, eigenständig zu denken, der Drang so groß, Differenzierungen kaum mehr gelten zu lassen? Wenn eine Meldung des „Tagesspiegels“ vom Sommer 2021 zutreffend ist, dann wurden Pressevertreter sogar vom Kanzleramt instrumentalisiert, um bei den Bund-Länder-Runden Druck auf die Ministerpräsidenten zu machen. Es wäre notwendig, wenn diese vermeintlichen oder tatsächlichen Verfehlungen aufgearbeitet werden würden.

               Mein Eindruck ist, vielerorts wird unterschätzt, wie tief die Enttäuschung, wie groß die Frustration und wie fortgeschritten die Abwendungstendenzen von Teilen unserer Gesellschaft sind. Die Lagerbildung ist leider so manifest, dass es unabdingbar ist, die Auseinandersetzung über diese Zeit mit maximaler Offenheit, Vorbehaltlosigkeit und größter demokratischer Robustheit zu führen. Eine Rücksichtnahme, wie Mascolo, sie nahelegt, ist weder notwendig noch zielführend. Er selbst sollte dem Verdacht entgegenwirken, mit solchen Leitlinien die Aufarbeitung der eigenen Rolle in der Corona-Historie zu dämpfen.

               Wir benötigen keine Verfahrensvorgaben, die Grenzen unserer Verfassung reichen als Grenzen der Aufarbeitungsdiskussion aus. Erst auf dieser Grundlage wird eine solche Debatte die Kraft entfalten können, um eine heilende Wirkung zu zeitigen.