Wolfgang Kubicki

Warum eine Aufarbeitung der Corona-Jahre dringend nötig ist

Wolfgang Kubicki Deutscher Bundestag
Foto Tobias Koch

Ab dem vergangenen Herbst und Winter hat sich nach meinem Empfinden etwas Entscheidendes verändert. Eine enorme Erschütterung ging durch die bereits arg coronagepeinigte bundesdeutsche Gesellschaft, die für viele bis heute noch nachwirkt. So wurde ich vor ein paar Wochen am Rande einer Veranstaltung von einer Frau angesprochen, die den langen Weg quer durch die Republik nur deshalb auf sich genommen hatte, um mir persönlich zu danken. Sie hatte Tränen in den Augen. Sie erklärte, sie wüsste nicht, was mit ihr passiert wäre, wenn die allgemeine Impfpflicht jetzt hätte umgesetzt werden müssen – so wie es von einem großen Teil der Bundestagsabgeordneten vor einem Jahr geplant gewesen war.

Solche persönlichen Erlebnisse habe ich seit der erregten Debatte um die allgemeine Impfpflicht immer wieder. Diese individuellen Leidensschilderungen zeigen mir nicht nur, wie grausam die Kraft der Ausgrenzung in jenen Tagen auf viele gewirkt hat, sondern auch, wie wenige Identifikationsfiguren und Anknüpfungspunkte diese Menschen im öffentlichen Diskurs hatten. Kaum jemand ergriff damals öffentlich Partei, um diesen Menschen etwas wie Halt oder Trost zu spenden. Stattdessen wurden sie von Weltärztepräsidenten zu „Tyrannen“ gestempelt, von Kirchen mittels 2G herzlos ausgesperrt, ja sogar das Bundesverfassungsgericht verfügte „2G plus plus“ (also mit aktuellem PCR-Test) in seinen Räumen. Wer individuelle Gründe für sich geltend machen wollte, sich nicht impfen zu lassen, wurde im Diskurs gnadenlos überrollt, gesellschaftlich geächtet, mit schweren Nachteilen bedroht und als unsolidarisch gescholten. Obwohl ich selbst nicht von dieser Ausgrenzung betroffen war – ich habe mich mittlerweile aus Überzeugung das vierte Mal impfen lassen – bekam ich aber eine Ahnung von der Wucht dieser Welle, als ich mich im vergangenen Jahr öffentlich gegen diese Art des Umgangs wehrte.

Als ich am Ende des Jahres 2021 im Interview mit der „Zeit“ erklärte, vielen Impfpflichtbefürwortern scheine es im Hinblick auf die Ungeimpften um „Rache und Vergeltung“ zu gehen, legte ein medialer Sturm los, der auch für mich den Rahmen des bisher Erlebten sprengte. Von der „Süddeutschen“ wurde ich daraufhin in die Nähe von Querdenkern und Rechtsradikalen gerückt, vom „Spiegel“ als „mental am Ende“, „fast im Verschwörerjargon“.

Ich bin es gewohnt, hart öffentlich angegangen, beschimpft und beleidigt zu werden. Ich kann damit umgehen, zumal ich neben den üblichen Morddrohungen damals „nur“ heftigste, zum Teil ekelhafte und ehrverletzende Anwürfe erhalten habe. Doch was wurde Menschen zugemutet, denen in einem solch aggressiven Klima tatsächlich die grundsätzliche gesellschaftliche Teilhabe verwehrt wurde und die durch politische ,Maßnahmen in eine unentrinnbare Entscheidungssituation gebracht wurden? Warum hielt es ein großer Teil der politischen, medialen, gesellschaftlichen Eliten für geboten, von einzelnen eine solche Geste der erzwungenen Unterwerfung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu fordern als Voraussetzung dafür, dass sie als dessen Teil wieder akzeptiert würden? Denn dass die Ungeimpften zu Unrecht in diese Rolle der Allgemeingefährder gebracht wurden, war spätestens klar, als sich die Berichte über Impfdurchbrüche häuften und „Die Welt“ schlimme Mogeleien einiger Bundesländer bei den offiziellen Hospitalisierungszahlen zulasten der Ungeimpften aufdeckte. Dass diesen Umstand viele in ihrem Streben nach Vergeltung dann gar nicht mehr interessierte, sprach allen Beteuerungen Hohn, es ginge bei der Bewältigung der Pandemie um die Beachtung „der“ Wissenschaft. In der Rückschau zeigt sich immer mehr, dass viele, die meinten, im gerechten Zorn auf Menschen zeigen zu können, eher von selbstgerechter Wut getrieben waren.

Wir haben nicht nur erlebt, wie viele Journalisten irgendwann nur noch eine coronapolitische Erzählung verteidigten, auf die sie sich einmal festgelegt hatten, anstatt der Wahrheit weiterhin auf die Spur zu gehen. Wir haben auch erlebt, dass dies politisch auch noch kultiviert wurde. Die regelmäßigen journalistischen Hintergrundgespräche von Regierungssprecher Steffen Seibert an den Tagen vor den unsäglichen Bund-Länder-Runden waren dazu da, eine öffentliche Stimmung zu erzeugen, die die politische Linie Angela Merkels stützte. (https://www.nzz.ch/international/corona-angela-merkels-fragwuerdige-medienpolitik-in-krisenzeiten-ld.1715145) Journalisten machten sich damit offenbar zu Verkündern des Regierungsnarrativs und gaben ihre demokratische Aufgabe und ihre journalistische Selbstachtung an der Garderobe des Bundespresseamtes ab. Nicht nur das ist ein beispielloses Versagen, das einer Aufarbeitung bedarf.

Und natürlich muss über die zweifelhafte Rolle des Robert Koch-Instituts gesprochen werden. Schon im April 2020 habe ich darauf hingewiesen, dass das RKI möglicherweise politisch motivierte Zahlen für die Corona-Politik der Bundesregierung bereitstelle. Meine damalige Nachfrage im Gesundheitsministerium zu merkwürdig ansteigenden Zahlen im Vorfeld einer Bund-Länder-Runde zeigte, dass mit doppelten Aufrundungen ein R-Wert „erzielt“ wurde, der härtere Grundrechtseinschnitte möglich machte. (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/robert-koch-institut-und-der-r-wert-ende-april-verwirrung-ueber-berechnung-a-264a8d9c-454f-499a-b729-e4b537688b72) Die Unfähigkeit dieser von vielen als sakrosankt angesehenen Behörde, bis heute Hospitalisierungszahlen „mit“ und „an“ Corona bereitzustellen, offenbart: Wenn entweder Dilettantismus oder Methode in der miesen Kommunikation des RKI steckt, dann haben wir besonders in der Pandemie ein institutionelles Problem.

Eine Corona-Aufarbeitung ist nötig, ja, um die schweren Verwerfungen in unserer Gesellschaft wieder zu glätten. Deshalb bin ich der „Berliner Zeitung“ dankbar, dass hier ein nötiger Schritt getan wird. Niemand erwartet, dass es bei einer solchen Krisenlage immer zu richtigen Antworten kommt. Auch ich habe zu sehr an dem Glauben nachgehangen, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht durch einen relevanten Fremdschutz politisch noch gerade vertretbar sei. Im Nachhinein musste ich feststellen, dass diese Einschätzung ein Fehler war.

Weil der demokratische Staat davon lebt, dass es klare politische Verantwortlichkeiten gibt, die ebenso klar zugeordnet werden können, ist die parlamentarische Aufarbeitung dieser Mega-Krise der vergangenen Jahre notwendig, um die Achtung vor unserer verfassungsmäßigen Ordnung wieder deutlich zu machen. Der demokratische Staat ist als selbstlernendes und sich selbst korrigierendes System konstituiert worden. Mindestens eine Enquete-Kommission muss sich deshalb dieses Themas mit der gebotenen Ruhe und Tiefe annehmen. Wer meint, dass das nicht nötig sei, unterschätzt die Wunden, die politische Entscheidungen bei vielen Menschen hinterlassen haben.