In Wahrheit gab es zwei Lothar Wielers - die RKI-Protokolle sind nur der Anfang
Dass es ein problematisches Zusammenwirken zwischen dem Bundesgesundheitsministerium und dem ihm unterstellten Robert Koch-Institut gab, konnte man schon früh in der Pandemie erahnen. Das RKI verkündete Ende April 2020, wenige Tage vor einer Bund-Länder-Runde, bei der beim ersten Lockdown über mögliche Öffnungen entschieden werden sollte, trotz sinkender Infektionszahlen sei der R-Wert wieder auf 1 gestiegen. Deshalb müsste die Stilllegung des öffentlichen Lebens weitgehend aufrechterhalten werden.
Die zeitliche Koinzidenz und die fehlende Logik verwunderten mich. Ich erklärte gegenüber der Deutschen Presse-Agentur, dass die vom RKI herausgegebenen Zahlen den Eindruck vermittelten, eher politisch motiviert, denn wissenschaftlich fundiert zu sein. Ich erntete einen Shitstorm sondergleichen. Das RKI war in der deutschen Öffentlichkeit sakrosankt. Man warf mir in der Folge „Wissenschaftsverachtung“ oder auch eine Stimmungsmache „wie in einer Klimaleugner-Diskussion“ vor. Als ich den damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn daraufhin schriftlich nach den Zahlen fragte, war ich von der Antwort verblüfft. Denn die Daten des Gesundheitsministeriums zeigten, der fragliche R-Wert war durch eine doppelte Aufrundung ermittelt worden. Das ist und war damals schon mathematisch unzulässig. Die damaligen Grundrechtseinschränkungen basierten also wahrscheinlich entweder auf mathematischer Unkenntnis – oder auf einer Lüge. Die eigentlichen Zahlen gaben den R-Wert von 1 nicht her.
Insofern ist die Veröffentlichung der RKI-Protokolle, die das „Multipolar-Magazin“ freigekämpft hat, nicht nur aus historischer Sicht spannend. Wichtiger noch: Sie kann helfen, der durch schwerwiegende politische Entscheidungen – und sicher auch Behördenversagen – ausgelösten gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken. Deshalb kann und muss dies der Auftakt für einen sauberen und rückhaltlosen Aufklärungsprozess mit dem Ziel einer Heilung sein.
Von den Entscheidungen, Erkenntnissen und öffentlichen Verlautbarungen des Robert Koch-Institutes hing viel ab. Die umfassendsten und tiefsten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik gründeten hierauf. Schulschließungen mit zum Teil katastrophalen Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder, das Wegsperren der Alten in den Heimen oder auch die unwürdige Ausgrenzung von Millionen von Menschen aufgrund einer freien Entscheidung gegen die Impfung (2G) – all dies wurde fachlich vom Robert Koch-Institut begleitet. Und durch das Institut wurde der Boden für politische Maßnahmen bereitet.
Auch Gerichte bezogen sich in ihren Entscheidungen rund um die Pandemiemaßnahmen auf die Expertise des Robert Koch-Institutes. Nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht bescheinigte der Behörde, dass es allein durch den gesetzlichen Auftrag eigentlich unfehlbar sei: „Mit der Aufgabenzuweisung an das Robert Koch-Institut nach § 4 Abs. 1 IfSG ist im Grundsatz dafür Sorge getragen, dass die zur Beurteilung der Maßnahmen der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten benötigten Informationen erhoben und evaluiert werden.“ Politische Einflussnahme durch den zuständigen Minister? War nicht einmal ansatzweise im denktheoretischen Rahmen.
Nun sehen wir durch die Protokolle, dass es möglicherweise nicht ganz so fachlich ideal im Institut vor sich ging. Und das eröffnet auch die Frage, was wir jetzt von den gerichtlichen Entscheidungen halten sollen, die sich auf eine Behörde gestützt haben, die oft wohl nur die wissenschaftliche Fassade für politische Entscheidungen gewesen ist. Denn dass es gewissermaßen zwei Lothar Wielers gab, darauf hätte man eigentlich auch schon früher kommen können.
Ein Beispiel: In einem Interview mit der „Zeit“ vor einem Jahr erklärte er zu den Schulschließungen: „Wir haben immer Empfehlungen abgegeben, mit denen man den Betrieb in Schulen und Kitas hätte laufen lassen können, wenn auch unter Anstrengung. Es gab nie nur die Alternative: Entweder wenige Tote oder Schulen offen halten, sondern es gab und gibt immer Alternativen.“ Vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe aber gab sich seine Behörde ahnungsloser: „Das Robert Koch-Institut führt die fehlende Möglichkeit, fachwissenschaftlich bewerten zu können, ob das Verbot von Präsenzunterricht zur Eindämmung des Infektionsgeschehens besser geeignet ist als geöffnete Schulen bei wöchentlich zweimaliger Testung von Schülern und Lehrern und bei Einhaltung angemessener Schutz- und Hygienekonzepten, darauf zurück, dass es an den dafür erforderlichen Daten fehle, weil die Wirksamkeit der verschiedenen Schutzmaßnahmen unter anderem im Bereich der Schule nicht systematisch und kontinuierlich erfasst und ausgewertet worden sei“.
Das RKI erklärte also gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, dass es nicht weiß, ob Präsenzunterricht möglich sei. Dessen Präsident Lothar Wieler wiederum sagte: Wir wussten immer, dass es möglich ist.
Ich bin mir sicher, dass die RKI-Protokolle weitere solcher Ungereimtheiten offenlegen werden. Und daher halte ich es für notwendig, angesichts des dramatischen Ausmaßes der durch das RKI begründeten Entscheidungen, jetzt für volle Transparenz zu sorgen. Ich erwarte von Karl Lauterbach, sämtliche Protokolle des Krisenstabes ohne Schwärzungen der Öffentlichkeit vorzulegen. Denn früher oder später wird er ohnehin hierzu gezwungen werden, entweder gerichtlich oder politisch. Wenn der Grundsatz „Follow the Science“ die ständige Leitschnur politischen Handelns in der Pandemie gewesen sein sollte, dann kann er zumindest fachlich nichts dagegen haben.
Wer sich angesichts der dramatischen gesellschaftlichen Eruptionen der Aufklärung und Aufarbeitung verweigert, muss sich fragen lassen, ob ihm das eigene Heil wichtiger ist als das Seelenheil weiter Teile der Bevölkerung. Die Schäden, die auch durch politische Maßnahmen verursacht wurden, sind immens.
Der österreichische Verfassungsgerichtshof erklärte einst, dass Entscheidungen unter Unsicherheiten einhergehen müssten mit der größtmöglichen Transparenz und mit der Offenlegung der Entscheidungsgrundlagen, um für alle nachvollziehbar zu machen, warum sich der Verordnungsgeber wie entschieden hat. In Deutschland mussten diese Entscheidungsgrundlagen bisher nicht in diesem Maße vorgelegt werden. Es wird Zeit, dass es jetzt geschieht.