Wolfgang Kubicki

Interview mit der Volksstimme: Kubicki will FDP zur dritten Kraft im Bund machen

Sachsen-Anhalt war mal ein goldenes Pflaster für die FDP. In Halle holte ihre Partei sogar ein Direktmandat. Nach einer Durststrecke geht es wieder bergauf. Ist das nur Corona geschuldet?

Nein, das liegt nicht nur an Corona, aber zu einem großen Teil. In der Pandemie haben viele Menschen den Wert von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, der vorher selbstverständlich war, wieder tief empfunden. Das macht für die Freien Demokraten, die die Freiheit im Namen führen, eine Menge aus. Die FDP ist im Aufwind. Es stimmt: In Halle haben wir nach der Wende durch Uwe Lühr das letzte Direktmandat der FDP erobert. Wir waren anfangs in Ostdeutschland gut vertreten. Dass die Partei an Rückhalt verlor, hatte viel damit zu tun, dass die Partei sehr stark westlich orientiert war. Sie konnten Menschen, die gerade dabei waren, ihre Existenzgrundlagen zu verlieren, nicht mit dem Slogan begeistern: „Leistung muss sich wieder lohnen“. Es dauerte Jahrzehnte, bis hier das erreicht wurde, was im Westen selbstverständlich war.

 

Sie waren mit Jürgen Möllemann einer der Väter des „Projekts 18“. Ist das wieder realistisch für die FDP?

Das „Projekt 18“ von Jürgen Möllemann und mir hatte einen anderen Inhalt als das gleichnamige Vorhaben von Guido Westerwelle. Wir hatten die Idee, mit der „18“ etwas Konkretes zu verbinden: Mit 18 wird man zum Beispiel volljährig und kann über sein Leben selbst entscheiden. Aber abgesehen davon: Mein persönlicher Anspruch für die Partei ist, wieder dritte politische Kraft im Bund zu werden. In jüngsten Umfragen haben wir das schon in Bayern geschafft. Dort sind wir bereits stärker als AfD und SPD. Wir wollen am 26. September bei der Bundestagswahl erreichen, dass ohne uns eine seriöse Regierungsbildung nicht möglich ist.

 

Wo sehen die Zukunftschancen, wo die Probleme in Sachsen-Anhalt?

Die geografische Lage des Landes ist ideal für Unternehmensansiedlungen. Die Strecke Hannover-Braunschweig-Magdeburg hat eine zentrale Lage in Deutschland. Deshalb wird eine Ansiedlungspolitik, die diesen Vorteil geschickt nutzt, Erfolg haben. Ich denke aber, in der Bildungspolitik gibt es hier viel zu tun, bei der Digitalisierung erst recht. Die FDP kämpft für eine gute Ausbildung nicht als Selbstzweck: Je besser junge Menschen ihr eigenes Leben in die Hand nehmen können, desto weniger sind sie von Dritten beeinflussbar. Ob Gesundheitsämter oder Produktionsstätten – alle brauchen künftig eine stabile Netzverbindung. Die Verkehrsinfrastruktur ist mittlerweile gut ausgebildet. Und wenn ich etwa Sachsen-Anhalt mit dem Ruhrgebiet vergleiche, kann ich nur sagen: Die ehemaligen Schwächen aus Deutschlands Osten liegen mittlerweile in Deutschlands Westen.

 

Bei der Digitalisierung schneiden die am dünnsten besiedelten Gebiete am schlechtesten ab. Auch weil es für die Firmen am wenigsten zu verdienen gibt. Muss da der Staat ran?

Zunächst brauchen Sie die großen Verbindungen. Bei den kleineren kann ich nur sagen: Schauen Sie auf Schleswig-Holstein. Die Windmüller investieren das Geld, was sie mit Windstrom verdienen, in den Ausbau von Glasfasernetzen im ländlichen Bereich. Wo das nicht funktioniert, machen das Zweckverbände, in denen sich auch Kommunen zusammenschließen. In zehn Jahren kriegen Sie ohne Glasfaser kein Unternehmen, aber auch keine jungen Familien mehr aufs flache Land. In den baltischen Staaten können Sie in den Wald gehen und die „Volksstimme“ locker in Höchstgeschwindigkeit als E-Paper herunterladen. Wenn ich von Kiel nach Berlin fahre, habe ich über 80 km in Brandenburg gar nichts, nicht mal Mobilfunk!

 

Blick nach vorn: Die Wähler können sich im Gegensatz zu 2017 darauf verlassen, dass sie in Berlin mitregieren wollen?

Das hängt vom Ergebnis ab. Sie können sich darauf verlassen, dass wir regieren wollen. Wir brauchen dafür eine vernünftige vertragliche Grundlage, damit eine Koalition auch vier Jahre bestehen kann. Ich kann sagen: Unsere pädagogischen Fähigkeiten gegenüber den anderen politischen Mitbewerbern sind in den vergangenen vier Jahren enorm gewachsen. Ich weiß aus meiner Erfahrung mit der Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein, für die ich mit Robert Habeck den Koalitionsvertrag mit verhandelt habe, dass Sie ein Grundmaß an Vertrauen untereinander benötigen. Das heißt: Sie dürfen von dem anderen nichts fordern, von dem Sie wissen, dass er es nicht erfüllen kann.

 

Dann hätte Ihnen Robert Habeck wohl näher gelegen als die Spitzenfrau Annalena Baerbock, wenn es zu Verhandlungen mit den Grünen kommen sollte?

Ich habe früher über Annalena Baerbock gesagt: „Eine sehr interessante Rotzgöre.“ Das würde ich heute vielleicht nicht mehr so sagen. Je näher wir dem Wahltag rücken, umso mehr wird ihre erfrischende Unbedarftheit zum Problem. Wir haben das jetzt ja bei der Nachmeldung des fünfstelligen Betrages gesehen, die sie an den Bundestag als Nebeneinkünfte übermittelt hat. Irgendwann kann man sich nicht mehr mit einem charmanten Lächeln auf Kenntnislücken zurückziehen. Ich denke, dass Robert Habeck insgesamt mehr Substanz mitbringt – und zwar nicht nur, weil er schon mal ein Ministerium geführt hat.

 

Was wäre für die FDP außer einer Koalition mit Union und Grünen denkbar?

Wenn es keine Mehrheit für eine Zweier-Koalition gibt, gäbe es drei Optionen: die erste wäre Jamaika. Dann gäbe es für die Grünen die Möglichkeit, eine Ampel-Koalition mit FDP und SPD anzuführen. In Frage kommt auch eine Deutschland-Koalition von Union, SPD und FDP. Ich denke, Jamaika ist am wahrscheinlichsten. Weil dort die Fliehkräfte am geringsten sind. Eine Jamaika-Koalition gleicht die Interessen am besten aus. Wir haben in Schleswig-Holstein mit den Grünen hingekriegt, dass viel Geld in den Landesstraßenbau investiert wird oder Wölfe zum Schutz der Schafherden abgeschossen werden können. Da wird deutlich, dass die Grünen im Zweifel flexibel sind.

 

Das Außenministerium war früher eine FDP- Bastion. Würden Sie den Posten wieder wollen?

Er ist nicht prioritär. Ein Digitalisierungsministerium ist für uns wichtig. Und ein liberaler Finanzminister könnte zeigen, dass es ohne Steuererhöhungen und mittelfristig ohne neue Schulden funktioniert, unsere Wirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen. Außerdem braucht aus meiner Sicht das Innenressort eine Auffrischung, nachdem Horst Seehofer nun ausreichend dokumentiert hat, dass er Innenminister auch nicht kann.

 

Die Bundeswehr zieht mit den Nato-Truppen aus Afghanistan ab. Sollten die inländischen Helfer mit nach Deutschland kommen dürfen?

All die, die für Deutschland gearbeitet haben, sollten ein Angebot bekommen – denn es ist leider zu erwarten, dass ihr Leben durch die Taliban bedroht ist. Durch den Nato-Einsatz wurde für einen Teil der afghanischen Gesellschaft für eine gewisse Zeit ein Fenster geöffnet, das sich jetzt wohl wieder schließen wird.

 

Sie sind Bundestags-Vizepräsident, gelten aber als Vertreter des scharfen Wortes. Wie gelingt es Ihnen, im Amt moderierend zu wirken?

Es ist offenbar möglich, denn aus allen Fraktionen höre ich immer wieder Lob über meine Sitzungsleitung. Ich versuche, die Geschäftsordnung gegenüber jeder Frau und jedem Mann in gleicher Weise anzuwenden. Manchmal kann man eine aufgeheizte Stimmung aber nur mit Humor lösen. Ein Beispiel: Bei einer Debatte über CO2-Emissionen hatten sich Grüne und AfD-Leute schwer ineinander verhakt. Ich warf ein, dass bei der allgemeinen Aufregung die persönliche CO2-Emission zunehme. Das sei doch nicht im Sinne der Debatte. Das hat die Lage entspannt. Von da an war Ruhe. Ich freue mich und fühle mich geehrt, dass ich das Parlament in dieser Funktion repräsentieren darf.

 

Sie würden das auch gern weitermachen.

Das ist mein Ziel, wenn ich in den nächsten Bundestag gewählt werde. Und ich sehe dort noch einige Aufgaben vor mir. Ich bin Vorsitzender der Bau- und Raumkommission. Da ist in den vergangenen dreieinhalb Jahren mehr vorangegangen als in den letzten 20 Jahren insgesamt. Ein Novum für Berlin: Innerhalb von zwei Jahren sind 400 Büroeinheiten gebaut worden und bezugsfertig. Und es stehen noch einige Bauten an.

 

Nachdem in Thüringen ein Ministerpräsident der FDP mit AfD-Hilfe ans Ruder kam, wurde über die Nähe zwischen Parteien spekuliert. Wie steht die FDP zur AfD?

Es gibt keine andere Partei, die so diametral von der AfD entfernt ist, wie die Freien Demokraten. Für uns ist die Menschenwürde unantastbar. Für die meisten Vertreter der AfD gilt diese nur für Deutsche. Wir sind pro-europäisch, die AfD ist das nicht. Wir sind für eine offene Gesellschaft, die AfD nicht. Man versucht aber immer wieder, uns in deren Nähe zu drücken, wenn ein AfD-Politiker ähnliche Sätze sagt wie wir. Ich bin für eine offene Auseinandersetzung. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir alles zurückweisen, aus dem alleinigen Grund, weil es von der AfD kommt. Ihre Argumentation auseinanderzunehmen wäre zielführender als die pauschale Zurückweisung. Und es wäre demokratischer.

 

Wie sehen Sie die Anti-Corona-Demos? Sind diese legitim oder nicht?

Die Demonstrationen sind ein Ausdruck der Meinungsfreiheit. Auch wenn da teilweise irre Meinungen vertreten werden. Was mir wichtig ist: Auch in der Pandemie gewähren uns die Regierenden nicht die Grundrechte, sondern wir sind Grundrechtsträger qua Verfassung. Und ich ärgere mich, wenn Politiker sagen: Wir wollen den Menschen die Freiheit zurückgeben. Die geben nichts zurück, weil sie uns gar nichts haben nehmen dürfen.

 

Die FDP will keine Steuererhöhungen und keine Vermögungssteuer. Wie wollen Sie mit dem Staatsdefizit nach der Pandemie fertig werden?

Deutschland ist heute schon Steuer-Weltmeister. Unser Ziel sollte nicht sein, den Abstand zu allen anderen Staaten der Welt noch auszubauen. Wenn es uns gelingt, in den nächsten sechs, sieben Jahren Wachstumsraten von 4 % plus zu generieren, können wir die Lasten der Pandemie schultern und zusätzliche Investitionen anschieben, ohne dass wir das Steuerniveau verändern müssen. Wir brauchen private Investitionen. Größenordnung: Mehrere 100 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren.

 

Und wenn das Wachstum ausbleibt?

Dann machen wir etwas falsch. Wir müssen weiter auf die Kraft der Innovationen setzen. Biontech wurde nicht in einem Entwicklungsland, sondern einem Hochindustrieland entwickelt – und der Impfstoff rettet Millionen von Menschenleben weltweit. Genauso wird die Energiewende nicht durch Verzicht, sondern nur durch technologische Innovationen zu schaffen sein. Nicht im Verzicht, sondern in der Innovation steckt Wachstumspotenzial.