Wolfgang Kubicki

Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Wer Solidarität einfordert, sollte die von den Nichtgeimpften einfordern“

Herr Kubicki, die Debatte um die Rückkehr zur Normalität ist im vollen Gange. Was soll für Geimpfte gelten: Bekommen sie ihre Rechte wieder, schneller als alle anderen? 

Ich finde die Debatte merkwürdig, ich weiß auch gar nicht, worin die Bedenken bestehen. Infektionsschutz ist Gefahrenabwehr. Wenn keine Gefahren bestehen, gibt es keine rechtliche Grundlage für freiheitsbeschränkende Maßnahmen. Das ist verfassungsrechtlich ein Selbstläufer, darüber muss man nicht mehr nachdenken.

 

Aber geht es nicht um Solidarität?

Wer Solidarität einfordert, sollte die von den Nichtgeimpften einfordern. Wenn wir jetzt die älteren Menschen durchgeimpft haben, sollte man ihnen eine schnellstmögliche Rückkehr in ein normales Leben ermöglichen und sie nicht mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen überziehen, die nicht mehr nötig sind. Ich fände es schön, wenn eine Achtzigjährige ohne Beschränkungen am öffentlichen Leben teilnehmen kann.

 

Ab wann soll das gelten?  

Ab dem Zeitpunkt, an dem feststeht, dass von ihr keine Gefahr mehr ausgeht. Das ist im Moment überwiegend wahrscheinlich, aber noch nicht sicher. Sobald das feststeht, ist von dieser Sekunde an jede freiheitsbeschränkende Maßnahme unzulässig.

 

Wer entscheidet das?

Das Robert-Koch-Institut, wenn es bestätigt, dass von Geimpften und Genesenen keine Gefahr mehr ausgeht. Im RKI laufen in einer Epidemie alle Fäden zusammen.

 

Das ist eine unglaubliche Machtfülle für das RKI.

Ja, das bedauere ich auch, aber das hat der Gesetzgeber so vorgesehen. Man kann lange darüber diskutieren, ob das RKI seine Aufgabe optimal erfüllt hat, aber das RKI ist die Behörde, die dafür eingesetzt ist. Irgendeiner muss es ja tun, und da ist mir das RKI lieber als die Kanzlerin.

 

Warum das?

Weil ich die Kompetenzen innerhalb des RKI auch trotz der politischen Abhängigkeit vom Bundesgesundheitsministerium immer noch für größer halte als die Kompetenzen der Kanzlerin in dieser Frage. Nach 16 Jahren Kanzlerschaft habe ich eher den Eindruck, dass sich die Kanzlerin vom normalen rechtsstaatlichen Prozess löst. Mir gefällt in der öffentlichen Debatte nicht, dass es alleine darauf ankommen soll, ob die Kanzlerin etwas will oder nicht. Das spielt infektionsrechtlich keine Rolle, auch die Kanzlerin ist als Vertreterin der Exekutive an Recht und Gesetz gebunden. Hinzu kommt, dass man inzwischen das Gefühl bekommt, dass einzelne Maßnahmen willkürlich getroffen werden. Dass Gartencenter aufmachen dürfen, Baumärkte aber gleichzeitig nicht, leuchtet nicht ein. Ebenso wenig, dass Frisöre geöffnet werden, aber andere körpernahe Dienstleistungen verboten bleiben. Verfassungsrechtlich lassen sich diese unterschiedlichen Maßstäbe nicht begründen.

 

Gilt der Wegfall der freiheitbeschränkenden Maßnahmen automatisch oder müsste darüber erst der Gesetzgeber entscheiden?

Das regelt schon die Verfassung. Der Gesetzgeber kann hier nicht gegen sie entscheiden. Alle Maßnahmen, die grundrechtseinschränkenden Charakter haben, wären in der Sekunde, in der ausgeschlossen ist, dass Menschen keinen Einfluss mehr aufs Infektionsgeschehen haben können, verfassungswidrig.

 

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn meint, die Folgen für Geimpfte müsste der Bundestag debattieren.

Dass die Bundesregierung plötzlich erklärt, der Bundestag solle entscheiden, ist schön. Das war aber eigentlich immer so, wurde jedoch bisher weitgehend ignoriert. Jens Spahn kann einfach sagen: Das Infektionsschutzgesetz verliert gegenüber denjenigen, die nicht mehr infektiös sind, seine Wirkung. Das wäre richtig.

 

Wie kann man sich denn die Rückkehr der Normalität für Geimpfte im Lockdown vorstellen? Die Geschäfte bleiben ja trotzdem zu.

Nicht, wenn die Inhaber der Geschäfte auch geimpft oder genesen sind, das heißt, keine Infektionstreiber mehr sein können. Dann kann ihnen der Staat nicht mehr untersagen, Cafés, Restaurants oder Kulturveranstaltungen zu öffnen. Für eine Übergangsfrist wird es Differenzierungen geben, aber das Problem kann auch häufig durch Schnelltests gelöst werden. Wenn klar ist, dass die Infektionsgefahr nicht besteht, ist eine Untersagung in der Regel rechtlich unzulässig. 

 

Das würden Sie auf eine Stufe stellen: Impfen und Testen?

Ja, weil auch mit den Schnelltests die Wahrscheinlichkeit dokumentiert wird, dass von demjenigen keine Gefahr ausgeht. Das kann nicht komplett ausgeschlossen werden, aber geht doch gegen Null. Diejenigen, die noch nicht geimpft sind, können darauf bestehen, dass sie durch Schnelltests auch am normalen Leben teilnehmen können. Es gibt kaum einen Unterschied zwischen Geimpften und Getesteten.

 

Dann scheitern Ihrer Ansicht nach die Lockerungen im Moment daran, dass weder das eine noch das andere im ausreichenden Maße vorhanden ist?

Ja, das ist es, was ich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn auch persönlich nachtrage, obwohl ich ihn sehr schätze: Wir sind beim Impfen mindestens zwei Monate hinter unseren Möglichkeiten, beim Testen liegen wir sogar ein halbes Jahr hinterher. Während Dänemark auf digitalem Wege in Echtzeit nachvollziehen kann, wo Impfstoff fehlt, kriegen bei uns Über-80-Jährige immer noch keinen Termin, während Hunderttausende Dosen Impfstoff in den Regalen liegen. Deutschland dokumentiert gerade der Welt, dass unser Ruf, die Weltmeister im Organisieren zu sein, vielleicht vor 15 Jahren gestimmt hat – aber inzwischen nicht mehr. Das wird noch zu diskutieren sein, wenn uns die Pandemie wieder etwas Zeit dazu lässt. Die Debatte über angebliche Privilegien für Geimpfte ist eine Neiddebatte, die auch deshalb geschürt wird, damit das Chaos bei der Beschaffung und Verteilung von Impfstoff verdeckt wird.

 

Warum das?

Die Bundeskanzlerin kann doch nicht sagen, die Geimpften dürfen bedauerlicherweise jetzt noch eine Weile auf ihre Grundrechte verzichten, weil meine Regierung zu blöd dafür war, ausreichend Impfstoff zu besorgen. Israel ist wohl in einigen Wochen durch. Und ausgerechnet der britische Premierminister Boris Johnson kann sagen, es war gut, die EU zu verlassen, weil so schon Ende Juni die Rückkehr zur Normalität gelingt, während Rest-Europa noch monatelang die Freiheitsrechte seiner Bürgerinnen und Bürger beschneidet. 

 

Muss bald jeder mit seinem gelben Impfpass durch die Gegend laufen? Einen digitalen Nachweis wird es frühestens in drei Monaten geben.

Es wäre natürlich sehr praktisch, wenn man den Nachweis auf seinem Smartphone hätte. Man kann die App auch relativ fälschungssicher durch einen QR-Code machen. Abgesehen davon bekommen wir ihn ja ohnehin irgendwann europaweit. Es hat auch praktische Vorteile, denn überall dort, wo ich mich ansonsten testen lassen müsste, könnte ich dokumentieren, dass ich bereits geimpft bin. Analog werden wir das gar nicht so schnell hinbekommen. Aber die Fragen werden sich hoffentlich bald nicht mehr stellen. Je mehr Menschen geimpft sind, desto schneller werden auch die Inzidenzzahlen sinken.

 

Wer wird schneller sein bei den Lockerungen: die Politik oder die Justiz?

Das wird parallel laufen. Die Justiz wird in den nächsten Wochen in einigen Fällen noch Exekutivmaßnahmen aufheben. Und die Politik reagiert jetzt schon. Ich bin immer so erstaunt über Markus Söder. In meinem ganzen Leben habe ich noch niemanden getroffen, der wie der bayerische Ministerpräsident so schnell seine Meinung um 180 Grad ändern kann und immer wieder den Eindruck vermittelt, das sei eine stringente Linie. Das hat man bei den Baumärkten gesehen und er wird auch der erste sein, der die Biergärten wieder öffnet, weil der Druck in Bayern so groß sein wird, dass er sich dem gar nicht entziehen kann.

 

Das Gespräch führte Corinna Budras.