Wolfgang Kubicki

Interview mit dem Hamburger Abendblatt: "Der Senat hat sich mächtig verhoben"

Schleswig-Holstein bleibt auf vorsichtigem Öffnungskurs – Hamburg hat nun eine Ausgangssperre verhängt. Was haben Sie gedacht, als sie von den Maßnahmen in der Hansestadt gehört haben?

Ich dachte: Da hat sich der Senat mächtig verhoben. Ich halte das für lebensfremd. Ich möchte mal sehen, was bei schönem Wetter passiert: Was sollen die Behörden denn machen, wenn um 20 Uhr noch Tausende Menschen am Elbstrand sitzen? Und ich habe erhebliche Zweifel daran, dass die Ausgangssperre wirkt, wenn beispielsweise in einem Hochhaus am Mümmelmannsberg der 12. Stock den 3. Stock besucht, um gemeinsam Love Island zu schauen. Nein, wir müssen angemessen reagieren. Ausgangssperren sind das letzte aller Mittel, weil es sich dabei, um die größte Grundrechtsbeeinträchtigung handelt. Ich gehe davon aus, dass es dazu in Schleswig-Holstein nicht flächendeckend kommen wird. Es gibt intelligentere Möglichkeiten.

 

Welche sollen das sein?

Zum Beispiel flächendeckende Testungen, von denen der Erste Bürgermeister schon vor Monaten gesagt hat, sie seien im ausreichenden Ausmaß vorhanden. Wir müssen endlich die Menschen identifizieren, die symptomlos durch die Gegend laufen, und damit zu einer Gefahr werden. Es kann doch nicht sein, dass wir 97 Prozent der Menschen, die nicht infektiös sind, kollektiv unter Hausarrest stellen. Und wir müssen impfen, impfen, impfen – das rettet Leben. Der Mangel an Impfstoff und an Testkapazitäten ist ein Komplettversagen der Bundesregierung. Das kann man nicht damit kompensieren, dass man jetzt die Leute zuhause einsperrt.

 

Die Eingriffe gehen jetzt weiter als im ersten Lockdown – geht es nicht auch um ein Signal gegen die Corona-Müdigkeit, um die Botschaft: Die Lage ist ernst?

Ja, aber der Staat darf nicht erziehen – er ist nicht die Gouvernante für die Menschen. Wir sind keine Untertanen. Beim Infektionsschutz geht es um Gefahrenabwehr. Wenn von Menschen, wahrscheinlich Geimpften und Genesenen, aber auch Bürgern mit einem aktuellen negativen Test, keine Gefahr ausgeht, darf ich deren Grundrechte nicht einschränken. Logischerweise müsste man sich also von der Ausgangssperre freitesten können.

 

Erwarten Sie, dass Gerichte diese Ausgangssperren kippen werden?

Das halte ich für überwiegend wahrscheinlich. Es handelt sich ja um keine Einzellösung nur in Hamburg, sondern wird in verschiedenen Bundesländern angewendet. Die Richter am OVG Mannheim haben eine flächendeckende Ausgangssperre bereits für unzulässig erklärt. Deshalb hat Ministerpräsident Kretschmann auch in Baden-Württemberg auf eine solche Maßnahme verzichtet. Nun ist Hamburg nicht so groß, aber auch hier könnte man stadtteilbezogen differenzieren.

 

Sie sagten, der Staat darf nicht erziehen. Haben Sie den Eindruck, manche Politiker erziehen ganz gerne?

Ich habe mittlerweile das Gefühl, dass sich die Entscheidungsträger an den Gedanken gewöhnt haben, in der Pandemie sei alles erlaubt. Aber alle Entscheidungsträger sind an Recht und Gesetz gebunden. Auch in der Pandemie gilt die Verfassung. Politik sollte vor der Umsetzung genau überlegen, was rechtlich zulässig ist. Ich möchte nicht in einem Staat leben, in dem die Gerichte ständig überprüfen müssen, ob die Exekutive Recht und Gesetz befolgt hat. Ich mache mir inzwischen ernsthaft Sorgen: In vielen Bereichen scheint die Verhältnismäßigkeit keinen Wert mehr darzustellen.

 

Die Mehrheit der Deutschen fordert härtere Maßnahmen. Ist die Politik am Ende getrieben?

Verfassungsgrundsätze gelten im Zweifel auch gegen die Mehrheit. Sonst könnten wir bei Bedarf die Minderheitenrechte über Bord werfen. Ich habe Verständnis für die Angst vieler Menschen – aber so funktioniert der Rechtsstaat eben nicht. Er hat gerade in der Pandemie eine besondere Bedeutung. Viele Menschen leiden auch unter den Folgen des Lockdowns.

 

Nun geht es aber darum, die Ausbreitung der Pandemie zu bremsen.

Ja. Aber wir wissen aus früheren Wellen, dass Ausgangsbeschränkungen nur kurzfristig helfen, nicht dauerhaft. Nach einem Jahr der Pandemie müssen wir zu intelligenteren Lösungen in der Lage sein als nur zusperren und wieder aufmachen.

 

Weitere Öffnungen gefährden Leben und könnten die Intensivstationen überlasten, der Lockdown soll Leben retten.

Es wäre schön, wenn wir das differenzieren würden. Beim „Lockdown light“ im Herbst sind ausgerechnet die Infektionszahlen bei den Über-80-Jährigen dramatisch gestiegen. Die Folgen, die dieser Lockdown nach sich zieht, gewichten wir nicht genug. Psychologen, Psychiater und Pädagogen fürchten erhebliche Kollateralschäden für große Teile der Gesellschaft, gerade für die jungen Menschen. Kinder können sich nicht mehr ordentlich sozialisieren, weil sie keine Freunde mehr treffen und nicht zur Schule gehen dürfen. Damit reduzieren sich die Bildungschancen ganzer Jahrgänge ganz erheblich. Ich habe große Sorge davor, was nach der Pandemie passiert, wenn diese Schäden an den Seelen der Kinder offenbar werden. Das betrifft übrigens auch alte Menschen, die zwar geimpft sind, aber noch immer allein im Seniorenheim sitzen müssen. Was für ein Wahnsinn! Für sie ist jeder Tag Leben mit diesen Beschränkungen verschwendet.

 

Müssen Geimpfte und Genesene einen grünen Pass bekommen, der sie von Beschränkungen ausnimmt?

Wenn von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht, gibt es keine rechtliche Handhabe mehr, ihnen Freiheitsrechte zu verweigern. Das wäre verfassungswidrig. Die Verfassung gewährt uns diese Rechte, nicht Angela Merkel oder Peter Tschentscher.

 

Die Kanzlerin hat nun vorgeschlagen, dass Infektionsschutzgesetz zu verändern, um besser durchregieren zu können. Was halten Sie davon?

Darüber kann man diskutieren. Endlich haben die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten verstanden, dass wir die Parlamente intensiver beteiligen müssen. Viele Fehler wären vermieden worden, wenn wir die Maßnahmen in den Parlamenten ordentlich beraten hätten – das hätte auch nicht mehr Zeit in Anspruch genommen. Der Bundestag kann in 48 Stunden entscheiden. Wir hätten dann eine offene Debatte im Land gehabt, Sachverständige gehört. Wir müssen die Kreativität der vielen nutzen – und nicht die Einfalt der wenigen.

 

Andere Länder gehen andere Wege. Sehen Sie da ein Modell für Deutschland?

Nein, die Situation ist in allen Ländern unterschiedlich, die Gesundheitssysteme weichen voneinander ab. Aber es gibt Länder, die inzwischen besser dastehen als wir, wenn man alle Faktoren berücksichtigt. Dazu gehört zum Beispiel die Schweiz. Wir müssen aber unseren eigenen Weg gehen.

 

Wer macht es in Deutschland am besten?

Schauen Sie auf die Inzidenzzahlen. Bayern hat doppelt so hohe Fallzahlen wie Schleswig-Holstein. Da brauchen wir keine Ratschläge aus Bayern.

 

Daniel Günther macht also einen guten Job?

Ja, das liegt vielleicht aber auch daran, dass die FDP mitregiert und den Gesundheitsminister stellt.

 

Sie wollen jetzt nicht im Ernst sagen, dass die Fallzahlen sonst höher wären?

Nein. Das hat eine Reihe von Ursachen: Dazu gehört sicher auch, dass die Schleswig-Holsteiner anders miteinander umgehen als die Bayern. Wir halten eher Abstand. Aber warum genau wir besser als Bayern dastehen, müsste eigentlich das Robert-Koch-Institut untersuchen und erforschen. Dafür ist das RKI zuständig. Es muss die Frage beantworten, wie wir eine bessere Pandemiepolitik gestalten können. Es macht mich rasend, dass das nicht geschieht. Stattdessen diskutieren wir seit 14 Monaten nur über Inzidenzzahlen und Lockdowns, nicht über bessere Lösungen.

 

Das Gespräch führte Matthias Iken.