Wolfgang Kubicki

Interview in der WELT: „Kanzlerin hat sich Dinge angemaßt, die ihr nicht zustanden“

WELT: Herr Kubicki, Sie machen Angela Merkel in Ihrem Buch schwere Vorwürfe. Sie weisen ihr die Schuld an einem Teil der Corona-Toten zu, an den Tragödien, die sich während der Pandemie in den Altersheimen zugetragen haben, auch an den seelischen Schäden, die Kinder und Jugendliche genommen haben – und trotzdem gab es in dieser ganzen Zeit keine Rücktrittsforderung ihrer Partei gegen die Kanzlerin. Wie passt das zusammen?

Wolfgang Kubicki: Das ist nicht ganz richtig. Ich mache nicht nur der Kanzlerin Vorwürfe, sondern der Bundesregierung insgesamt. Sie hat den Menschen Angst gemacht, um eine Art der Pandemiepolitik durchzusetzen, die die Grundrechte massiv aushebelt. Im Übrigen habe ich in diesem März offen gefordert, Jens Spahn endlich aus dem Kabinett zu nehmen, weil er sich im Amt des Gesundheitsministers als nicht krisentauglich erwiesen hat. Am Ende ist natürlich Angela Merkel verantwortlich. Aber es macht unter dem Strich wenig Sinn, mitten in der Pandemie die Kanzlerin auszutauschen. Und jetzt, kurz vor der Bundestagswahl, ist es erst recht zu spät.

Wörtlich werfen Sie Merkel „kalte Undifferenziertheit“ im Umgang mit Heimbewohnern und deren Angehörigen sowie „Starrsinn“ und Schwarzmalerei zu Lasten der jungen Generation vor. Dazu: „Planlosigkeit“, „Unfähigkeit“, „Dilettantismus“, „Allgemeingefährdung“. Starker Tobak.

Die Kanzlerin hat sich im Verlauf der Pandemie Dinge angemaßt, die ihr überhaupt nicht zustanden. Infektionsschutz ist hauptsächlich Ländersache beziehungsweise Sache der Kreise und kreisfreien Städte. Angela Merkel hat bei der Ministerpräsidentenkonferenz – in der sie eigentlich gar keinen Sitz hat – das Heft des Handelns immer wieder in die Hand genommen und ein Entscheidungsgremium geschaffen, das die Verfassung nicht vorsieht. Deswegen zahlt auch alles, was falsch gelaufen ist, auf ihre persönliche Rechnung ein. Nehmen wir die Situation in den Alten- und Pflegeheimen: Ich habe bereits im Mai 2020 darauf hingewiesen, dass es wichtig wäre, Zutritt zu diesen Heimen nur mit entsprechender Schutzausrüstung zu gewähren und die Bediensteten und Besucher regelmäßig zu testen. Wir wussten da ja schon, dass ältere und pflegebedürftige Menschen besonders gefährdet sind. In der MPK beschlossen wurde die Testpflicht aber erst im Dezember. Ein halbes Jahr später. Hätten wir es früher gemacht, hätte es weniger Tote und deutlich weniger schwere Verläufe gegeben.

Waren die Lockdowns verzichtbar?

Jedenfalls hätte man sie anders gestalten müssen. Konzentration auf diejenigen Gruppen, die besonders geschützt werden mussten. Einzelhandelsgeschäfte hätten aus meiner Sicht geöffnet bleiben können, oder auch Restaurants, bei denen viel Geld in die Hand genommen wurde, um Lüftungssysteme zu implementieren. Es gab ja Geschäfte, in denen die Menschen ein- und ausgingen, Supermärkte, Drogerien – und keinerlei Hinweis darauf, dass man sich in diesen Läden infiziert. Es war also mehr möglich.
 

Am kommenden Montag tagen die Gesundheitsminister von Bund und Ländern, eine gute Woche später die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin. Was sollten diese Runden aus Ihrer Sicht beschließen? Das Ende aller Beschränkungen?

Es wird wohl vorläufig beim Testen in bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens bleiben. Denn wir haben noch nicht allen, die sich schützen wollen, ein niedrigschwelliges Impfangebot machen können. Geschäfts- und Restaurantbesitzer sollten allerdings künftig selbst darüber entscheiden können, wen sie in ihren Räumen bedienen wollen und wen nicht. Der Staat sollte sich in diesem Herbst mit neuen Regeln und Anordnungen möglichst zurückhalten. Wichtig ist aus verfassungsrechtlicher Sicht aber auch: Es muss mit der Steigerung der Impfquote ein Ende der Maßnahmen für alle absehbar sein, so, wie es der Ethikrat im Februar und Helge Braun im März noch gefordert hatten. Die Bundesregierung weicht meiner Frage, welche Kriterien dafür erfüllt sein müssen, seit Monaten aus.

In Ihrem Buch finden sich immer wieder Verweise auf die Willfährigkeit der Medien im Umgang mit der Politik der Bundesregierung – finden Sie, dass die Journalisten nicht unabhängig genug agieren?

Eine ganze Reihe von Medien, dazu gehören Teile der öffentlich-rechtlichen genauso wie die „Süddeutsche Zeitung“ oder die „Frankfurter Rundschau“, haben die Maßnahmen der Regierung überhaupt nicht mehr hinterfragt, weil diese angeblich der Bekämpfung des Corona-Virus dienten. Einige, nicht alle, Journalisten haben sich offensichtlich als Teil der Bewegung verstanden und nicht als kritische Beobachter.

Haben Sie Verständnis für die Kritik der Querdenker-Bewegung?

Nein. Auf gar keinen Fall. Ich kann mit Verschwörungstheoretikern, mit Menschen, die daran glauben, dass Bill Gates uns mit der Impfung einen Chip einsetzen will, überhaupt nichts anfangen. Da fehlt jede Diskussionsgrundlage. Aber ich wehre mich dagegen, dass jedes Infragestellen staatlicher Maßnahmen in diese Ecke gestellt wird. Das untergräbt unsere demokratischen Prozesse. Demokratie lebt davon, dass abweichende Meinungen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht sind.

Auch die Ministerpräsidenten kommen in Ihrem Buch denkbar schlecht weg. Markus Söder haben Sie besonders auf dem Kieker. Er wird als wendehalsiger Machtpolitiker beschrieben, der es beherrsche, „jede 180-Grad-Kehrtwendung als konsequente Linie zu verkaufen“. Das hört sich nicht gerade nach einem vertrauenswürdigen Koalitionspartner an.

Sehen Sie, ich bin Strafverteidiger von Beruf. Da ist mir nichts Menschliches fremd. Aber die Kehrtwenden, die Markus Söder in den vergangenen zwei Jahren hingelegt hat, da komme selbst ich kaum hinterher. Ein Beispiel: In der Ministerpräsidentenkonferenz markiert Söder den harten Hund, sorgt so dafür, dass alle Länder ihre Geschäfte schließen. Und kaum ist er wieder in Bayern, öffnet er seine Baumärkte. Das hat ihn unter den Ministerpräsidenten nicht gerade beliebt gemacht. Jeder weiß seitdem, wie verlässlich Söder ist. Jetzt fordert er gerade wieder, ab 1. August alle Einreisenden testen zu lassen. Das hat er letztes Jahr schon versucht ¬– was bekanntermaßen komplett schiefgegangen ist.

Die von der FDP mitregierten Länder NRW und Rheinland-Pfalz haben die Corona-Politik mitgetragen – sie selbst kritisieren sie in Grund und Boden. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

Wenn es so wäre, dass die Pandemiepolitik besser würde, wenn sich die eigenen Leute in solchen Momenten aus einer Regierung verabschieden, hätten die Beteiligten sicher darüber nachgedacht. Aber so ist es ja nicht. Also bleibt man drin und versucht Schlimmeres zu verhindern.

In dem Teil des Buches, in dem es nicht um die Fehler des Corona-Managements geht, sondern um den Widerstreit zwischen Pandemie-Regeln und den Grundrechten, schreiben Sie „Jeder Mensch hat das Recht auf Unvernunft“. Gibt es da eine Grenze?

Ja. Und zwar genau da, wo die Unvernunft zur unmittelbaren Gefährdung anderer Personen führt. Das ist aber bei einer Infektion aus meiner Sicht nicht automatisch der Fall.

Darüber ließe sich beim Corona-Virus mit Sicherheit streiten.

Das können wir tun, aber dann bekommen Sie irgendwann ein großes Problem, wenn Sie meinen, jedes Lebensrisiko verhindern zu müssen. Weil Sie erklären müssten, warum zum Beispiel nicht alle Kliniken geschlossen werden, obwohl es jedes Jahr zwischen 20.000 und 40.000 Menschen gibt, die an Krankenhaus-Keimen sterben. Wir müssten dann auch den Straßenverkehr unterbinden, weil der Jahr für Jahr mehr als 3000 Tote fordert.

Noch einmal: Wo genau verläuft aus ihrer Sicht die Grenze, an der der Staat eingreifen muss, wenn ein Bürger die Gesundheit eines anderen durch sein Verhalten gefährdet?

Diese Grenze ist dann erreicht, wenn der andere sich selbst nicht schützen kann. Beispiel: Ungeimpfte stellen für einen Geimpften keine relevante Gefahr mehr da. Also darf der Staat auch keine Impfpflicht anordnen.

Hieße das nicht im Umkehrschluss: So lange nicht jeder, der sich impfen lassen will, auch geimpft ist, sind staatliche Maßnahmen eben doch gerechtfertigt? Weil der Ungeimpfte sich eben nicht ausreichend schützen kann vor einer Infektion mit dem Corona-Virus?

Es gab im Verlauf der Pandemie sicher auch staatliche Maßnahmen, die gerechtfertigt waren. Kontaktbeschränkungen haben in bestimmten Phasen Sinn gemacht. Vermutlich wäre es aber deutlich besser gewesen, wenn wir uns von Anfang an auf die Gruppe der wirklich Gefährdeten konzentriert hätten. Was aber nicht geht, ist, dass die Regierung Maßnahmen anordnet, ohne sich hinreichend damit zu beschäftigen, wie diese Maßnahmen wirken. Wie es das Oberverwaltungsgericht Lüneburg bereits im Februar so passend beschrieben hat: Nach einem Jahr Pandemie sind freiheitseinschränkende Maßnahmen, die lediglich auf Annahmen und Vermutungen beruhen, nicht mehr hinnehmbar. Das gilt heute umso mehr.

Hielten Sie zum jetzigen Zeitpunkt eine Regel, die zum Beispiel nur vollständig Geimpften oder Genesenen einen Konzert- oder Stadionbesuch ermöglicht, für richtig?

Nein. Auch Getestete sollten Zutritt erhalten. Das aktuelle negative Testergebnis dokumentiert ja, dass von diesen Personen keine Gefahr für andere ausgeht.

Testergebnisse können bekanntermaßen falsch sein.

Ja, 100-prozentige Sicherheit kann niemand zu jeder Zeit garantieren. Es gibt und gab auch schon vor Corona ein allgemeines Lebensrisiko.

Anderes Beispiel – könnte es Reisebeschränkungen nur für Ungeimpfte geben? Oder müssten im Fall des Falles wieder alle zu Hause bleiben?

Beides nicht. Wir können diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen oder können, nicht vom allgemeinen Leben ausschließen. So können mindestens 12 Millionen Menschen gar nicht geimpft werden, Kinder unter 12 Jahren, Schwangere, Menschen, die auf Impfstoffe allergisch reagieren und so weiter. Aber um an bestimmten Veranstaltungen oder auch an Reisen teilnehmen zu können, müssen Ungeimpfte sich testen lassen – jedenfalls so lange, wie wir noch ein beachtliches Pandemiegeschehen haben, beziehungsweise nicht jeder Erwachsene ein Impfangebot erhalten hat.