Wolfgang Kubicki

Interview in der WELT: "Ich halte das in einem Rechtsstaat für höchst problematisch"

Herr Kubicki, Bundestag und Bundesrat haben der sogenannten Notbremse zugestimmt, die Länder sind damit weitgehend entmachtet. Wird dieser Schlag gegen den Föderalismus Auswirkungen über die Pandemie hinaus haben?

Nein, das sehe ich nicht. Das Grundgesetz sieht in Artikel 74 vor, dass der Seuchenschutz durch den Bund geregelt werden kann. Das ist jetzt passiert. Ich sorge mich weniger um den Föderalismus, als vielmehr um die Rechtsweggarantie als eine der tragenden Säulen unserer Gewaltenteilung,

Sie halten die Möglichkeiten, sich gegen staatliche Pandemiemaßnahmen zu wehren, nicht mehr für ausreichend?

Der Rechtsweg ist massiv verkürzt worden. Gegen das neue Infektionsschutzgesetz können Sie keine Verwaltungsgerichte mehr anrufen, sondern müssen ab jetzt immer direkt zum Bundesverfassungsgericht gehen. Ziel der Regierung war es nicht nur, die Bürger mit teils fragwürdigen Maßnahmen zu drangsalieren, sondern ihnen auch den Weg zu den Oberverwaltungsgerichten zu versperren. Damit ist die Kontrollfunktion der Justiz stark eingeschränkt. Ich halte das in einem Rechtsstaat für höchst problematisch.

Die Regierungsfraktionen im Bundestag tragen das mit, die FDP nicht. Ist die Mehrheit dümmer als Sie?

Nicht dümmer. Mehr als 30 Kolleginnen und Kollegen aus den regierungstragenden Fraktionen Union und SPD haben Protokollerklärungen abgegeben, in denen sie Bedenken gegen das Gesetz formulieren, es aber aus übergeordneten Gesichtspunkten mittragen. Fast 30 Abgeordnete der regierungstragenden Fraktionen haben dem Gesetz nicht zugestimmt. Wenn sich diese Abgeordneten gegen den Kurs der Bundesregierung stellten, dann würden sie die Kanzlerin beschädigen. Also haben wir jetzt ein erweitertes Infektionsschutzgesetz, das ich mit anderen in Teilen für verfassungswidrig halte. Deswegen werden mehrere FDP-Politiker zur Verteidigung des Rechtstaates das Bundesverfassungsgericht anrufen.

Warum hat der versierte Anwalt Kubicki nicht schon längst einen Schriftsatz in Karlsruhe hinterlegt?

Sie brauchen ja erst einmal ein Bundesgesetz, das in Kraft ist, ehe Sie dagegen klagen können. Das liegt ja jetzt erst vor. Die bisherigen Verordnungen wurden auf Landesebene erlassen, in den einzelnen Ländern sind in über 160 Fällen erfolgreich Klagen geführt worden. Noch am Tag, an dem das Infektionsschutzgesetz verabschiedet wurde, hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg geurteilt, dass es keine rationale Begründung für eine nächtliche Ausgangssperre gibt. Die sei verfassungswidrig, so das Urteil, weil eine Ausgangsperre zur besseren Kontrolle von Kontaktbeschränkungen dazu führe, dass man fast alle rechtstreuen Bürger in Geiselhaft für einige Wenige nimmt, die sich nicht an die Regeln halten. Das ist reine Symbolpolitik, ein Placebo.

Für eine Normenkontrolle in Karlsruhe fehlt angesichts der Uneinigkeit der Opposition das nötige Viertel der Abgeordnetenstimmen. Braucht es eine Reform der Minderheitenrechte?

Es gab einmal eine Zeit, in der die große Koalition 80 Prozent der Abgeordneten stellte. Die Koalition hatte sich damals freiwillig verpflichtet, dass sie die Mehrheit für den Fall herstellen, dass sich zwei Fraktionen zur Normenkontrollklage entschließen. In meinem Land Schleswig-Holstein reichen ebenfalls zwei Fraktionen aus. Das sollte künftig die Regel werden.

Immerhin hat sich der Bundestag mit der Debatte über die Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes in die Pandemie eingeschaltet. Warum erst jetzt?

Dies liegt an der Dominanz der Bundeskanzlerin. Warum haben wir denn jetzt über diese Notbremse beraten? Weil Frau Merkel ihre Äußerungen aus der Talkshow von Anne Will umsetzen wollte. Sachsen, Thüringen und das Saarland haben nicht gespurt, also hieß es: „Ich schaue mir das nicht länger an.“ Was ist das für eine Anmaßung!

Täglich steigt die Zahl derjenigen, die geimpft und auch genesen sind. Ist es mit Blick auf die Grundrechte nicht geradezu zwingend, jetzt schon Beschränkungen gegen diese Gruppen aufzuheben?

Infektionsschutz ist Gefahrenabwehr. In dem Augenblick, in dem feststeht, dass von Genesenen, Geimpften oder Getesteten keine oder nur eine minimale Gefahr ausgeht, gibt es keinerlei rechtliche Grundlage für Beschränkungen. Das ist keine Frage irgendwelcher Beschlüsse. Das schreibt das Grundgesetz vor – völlig unabhängig davon, was Angela Merkel oder sonst wer erzählt.

Sie haben dem Kanzleramt mit Blick auf die Notbremse bescheinigt, mit Nonchalance Verfassungsgrenzen zu überspringen: „Eine solche Denkweise kannte ich bisher nur aus autoritären Staaten.“ Bleiben Sie dabei?

Es gibt bestimmte Entwicklungen, die mich eher an autoritäre denn an demokratische Systeme erinnern, ja. Dazu zählt auch die absurde Idee, die Runde der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin ersetze im Kampf gegen Corona alle anderen demokratischen Institutionen. Ein solches, faktisch rechtsetzendes Gremium ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Dieses Gremium hat übrigens nicht verhindern können, dass Deutschland bei der Maskenbeschaffung, bei dem Schutz der Menschen in den Pflegeheimen und bei der frühzeitigen Versorgung mit Impfstoff total versagt hat. Dazu kommt dann noch die Anmaßung zu sagen: Jeder, der die Maßnahmen der Bundesregierung infrage stellt, hilft der Verbreitung des Virus, und das kostet Menschenleben. Das ist ein Hypermoralismus und zutiefst antidemokratisch. Die Wahrheit ist: Hätten wir rechtzeitig Impfstoff gekauft und verimpft, hätten wir heute Tausende von Toten weniger.

In Ihrem Wahlprogramm fordert die FDP die politische Unabhängigkeit des RKI. Sehen Sie Herrn Wieler also als weisungsgebundenen Erfüllungsgehilfen des Gesundheitsministers?

Ja, das ist er tatsächlich. Die Behörde RKI untersteht dem Bundesgesundheitsministerium. Und wenn Sie als Regierung massiv einschneidende Maßnahmen an Erklärungen dieser Behörde und den von ihr ermittelten Inzidenzwert binden, dann müssen Sie schon dafür Sorge tragen, dass es unabhängig geschieht. Übrigens hat mir das Ministerium schriftlich bestätigt, dass die vom RKI ermittelte Inzidenz gar keinen Aussagewert hat, was die reale Abbildung des Pandemiegeschehens angeht. Dennoch steht sie als einziger Maßstab im Gesetz.

Immerhin ist Ihr Gebet erhört worden: „Gott schütze Bayern – und uns vor Söder.“ Ist Armin Laschet wirklich der bessere Kanzlerkandidat – und kann er die weitere Erosion der Union verhindern?

Das ist mir völlig egal. Mein Job ist es, die FDP so stark zu machen, dass es eine seriöse Regierungsbildung ohne uns nicht geben kann. Der Verfall der Union ist meines Erachtens auch unabhängig von den Personen Laschet oder Söder, er wird von beiden nicht gebremst werden. Wir sehen eine Partei, die in den letzten 16 Jahren keine inhaltlichen Debatten geführt, sondern fast ausschließlich strategische Machtüberlegungen angestellt hat. Herr Laschet hat nur eine Chance, wenn er sich in den nächsten Monaten von dieser Art der Politikgestaltung verabschiedet und einen eigenen Führungsanspruch dokumentiert. Die Rolle als kleiner Sohn von Angela Merkel reicht nicht.

Könnten Sie mit den Grünen regieren?

Selbstverständlich. Wir dokumentieren das jeden Tag in Schleswig-Holstein. Es ist ein hoher Koordinations- und Verhandlungsaufwand, das gebe ich zu. Trotzdem sind wir dort nach langen Diskussionen zu vernünftigen Lösungen gekommen, die nicht idealtypisch sind, aber von allen vertreten werden können. Im Bund könnten wir uns neben Jamaika auch vorstellen, in anderen Konstellationen vernünftige Politik zu betreiben. Das Problem bei einer grünen Ampel wird aber darin bestehen, dass die Sozialdemokratie so abgrundtief abschmiert, dass es numerisch dazu wahrscheinlich nicht reichen wird.

Die Grünen haben sich seit 2017 mehr als verdoppelt, manche Demoskopen sehen sogar Potenzial für eine Verdreifachung. Die FDP dagegen stagniert. Was machen Sie falsch und die Grünen richtig?

Zweistellig stagnieren, das ist für eine freie demokratische Partei in Deutschland schon mal was. Das gab es in der Geschichte noch nicht, dass wir bei zwei Bundestagswahlen in Folge über zehn Prozent gekommen wären. Und bei den Grünen sage ich: Warten wir doch mal ab, bis die Menschen Annalena Baerbock jetzt näher kennenlernen durch häufige Auftritte. Wenn sie sagt, wie sie Wirtschaft und Soziales mit dem Klimathema austarieren will. Oder wie sie mit dem Libyen-Konflikt umgehen will. Eine grüne Mediatorengruppe hinschicken? Und dann mein grüner Kollege Anton Hofreiter, auch er würde Deutschland dann künftig in der Welt repräsentieren. Ich glaube nicht, dass sie ihr aktuelles Niveau halten werden.

Sind die Grünen eine linke Partei?

Robert Habeck definitiv nicht. Die Basis, die Bundestagsfraktion ja. Wenn Sie die Grüne Jugend anschauen, die Berliner Grünen, dann ist links noch eine bürgerliche Schmeichelei.

Was muss sich bei der FDP noch tun bis zur Bundestagswahl?

Wir müssen Durchhaltefähigkeit beweisen. Viele Bürger, die bis vor einem Jahr gar nicht mehr wussten, warum es die FDP eigentlich braucht, haben in der Pandemie erkannt, dass es die Freien Demokraten sind, die mit rechtsstaatlichen Möglichkeiten staatliche Übergriffe abzuwehren suchen. Und wir beschäftigen uns mit der Frage: Wo steht Deutschland eigentlich wirklich – jenseits der Illusion, wir seien nach wie vor eine technisch und wirtschaftlich führende Nation. Nicht mal unsere Bürokratie funktioniert noch! Neben diesen rationalen Themen müssen wir aber auch emotional stärker werden. Die Großen werden immer ordentlich bedient, weil sie über ihre Gewerkschaften Zugang haben zur Bundesregierung. Wir müssen die Lobby der Kleinen sein, auch mit warmem Herzen auf die Situation von Menschen hinweisen. Auf die verheerenden Bildungschancen der Jungen, die Lage der Pflegekräfte, Künstler und Soloselbständigen.

Während Sie als FDP-Vize in der Pandemie oft deutliche Worte finden, bemüht sich der Vorsitzende Lindner im Wahljahr eher um rhetorische Zurückhaltung. Ist das eine strategische Aufgabenaufteilung?

Das ist eine nicht abgesprochene Arbeitsteilung, die sich faktisch so entwickelt hat. Wir sind einfach unterschiedliche Typen. Ich bin Zeit meines Lebens jemand, der gern streitet. Ich muss auch nicht mehr staatstragend sein, weil ich kein Regierungsamt übernehmen will. Christian Lindner dagegen muss die gesamte Bandbreite der Partei für unsere Wähler abbilden.