Wolfgang Kubicki

Interview in der Frankenpost: „Eingriffe müssen verhältnismäßig sein“

Herr Kubicki, ein Jahr Pandemie, ein Jahr leben mit Einschränkungen. Wie fällt Ihre Bilanz über das Krisen-Management der Bundesregierung aus?

 

Desaströs, das kann man nicht beschönigen. In allen zentralen Punkten hat die Bundesregierung entweder nicht geliefert oder versagt. Das fing mit der Beschaffung von FFP2-Masken an, ging weiter mit der Unwilligkeit, die Menschen in den Altenheimen besonders zu schützen. Man erklärte ja mit böser Absicht, dass diejenigen, die diesen Schutz einforderten, die Menschen „wegsperren“ wollten – was schlichtweg falsch war. Dann hat die Bundeskanzlerin die Impfstoffbeschaffung an Ursula von der Leyen übertragen – obwohl die Kanzlerin wusste, dass diese schon bei ähnlichen Fragen im Verteidigungsministerium überfordert war. Und nicht zuletzt: Die Tatsache, dass wir noch immer keinen Jedermann-Schnelltest haben, wirft uns wieder um Wochen zurück. Ich bin bei diesem Chaos weit davon entfernt, Absicht zu unterstellen. Ich tippe eher auf simple Unfähigkeit. Israel zeigt uns sehr deutlich, wie man es richtig macht. Und dass Boris Johnson den Briten jetzt ein konkretes Datum für die vollständige Öffnung ankündigt, war auch ein klarer Fingerzeig in Richtung EU. Johnsons Botschaft ist ja: Gut, dass wir die Europäische Union verlassen haben.  

 

Zwölf Monate Corona - und wir wissen eigentlich nichts über das Virus, außer dass es ansteckend ist. Nicht aber, ob es wahrscheinlicher ist, sich beim Friseur, im Bus oder an der Arbeitsstätte zu infizieren. Ist das ein Armutszeugnis für ein modernes Industrieland?

 

Definitiv ja. Und das Schlimmste ist hierbei, dass mit dieser Unwissenheit schwerste Grundrechtseingriffe begründet werden. Das ist aus rechtsstaatlicher Sicht ein unhaltbarer Zustand. Seit Wochen wird zum Beispiel vor der „Mutante“ gewarnt – ohne dass wir valide Zahlen haben, die diese Sorge auf feste Beine stellen könnte. In Großbritannien oder Südafrika sind die Inzidenzzahlen trotz der Mutationen drastisch gesunken. Es wäre die Aufgabe des Robert Koch-Institutes gewesen, für wissenschaftliche Klarheit über die Ansteckungsszenarien zu sorgen. Seit einem Jahr stochern wir aber im Dunkeln. Und gleichzeitig sagt die Kanzlerin den Menschen: „Ihr könnt eure Restaurants nicht öffnen, ihr könnt keine Konzerte veranstalten, ihr könnt eure Dienstleistung nicht anbieten. Denn: Wir wissen nichts. Seid aber solidarisch und seht untätig zu, wie eure berufliche Existenz euch durch die Finger rinnt.“ Die Menschen verzweifeln – und das vollkommen zu Recht.

 

Wie sieht für Sie ein intelligenter Umgang mit dem Virus aus?

 

Zunächst gilt der Grundsatz: Testen, testen, testen. Damit ziehen wir auch die asymptomatischen Verläufe mit hoher Wahrscheinlichkeit heraus. Es ist für mich völlig unverständlich, dass die Briten aktuell viermal mehr Menschen testen als Deutschland. Dann brauchen wir so viele wissenschaftliche Studien wie möglich, die uns sagen, wo und wie wir uns anstecken. Wenn wir uns zum Beispiel im Fitnessstudio durch ein spezielles Hygienekonzept nicht mehr anstecken können, können die Inzidenzzahlen draußen steigen, wie sie wollen. Dann ist aber das Fitnessstudio sicher. Und wir müssen natürlich so schnell wie möglich impfen. Das ist der verlässlichste Weg aus dieser Pandemie.

 

Die Software „Sormas“ läuft in afrikanischen Staaten wie Ghana und Nigeria reibungslos. Deutsche Gesundheitsämter nutzen die mit großem Tamtam angekündigte Technik bislang nur zu einem Viertel. Stattdessen müssen Soldaten helfen und Zettel ausfüllen. Auch kein Ruhmesblatt – oder?

 

Corona wirkt gerade wie ein Brennglas. All die Versäumnisse der Vergangenheit holen uns jetzt mit Macht ein. Es ist doch ein Treppenwitz, dass sich ausgerechnet die Kanzlerin vor einigen Tagen darüber beklagt hat, dass es mit der Digitalisierung nicht weit vorangeschritten sei in Deutschland. Die Menschen fragen sich doch: Wer hat uns eigentlich die letzten 16 Jahre regiert? Die Überheblichkeit, mit der die Regierungsmitglieder nach der ersten Welle auf der Weltbühne aufgetreten sind, als sie erklärten, dass Deutschland extrem gut durch diese Krise geführt wurde, schlug im Herbst gnadenlos zurück. Plötzlich sehen wir, dass ausgerechnet Donald Trump bei der Impfstoffversorgung vieles besser gemacht hat als Angela Merkel. Der deutsche Anspruch, dass wir als viertstärkste Industrienation auch eines der fortschrittlichsten Länder der Welt seien, pulverisiert sich gerade.

 

Es gäbe ja modernere Mittel, doch die Corona-Warn-App hat nicht das gehalten, was versprochen wurde. Steht in unserem Land der Datenschutz über dem Menschenschutz?

 

Das höre ich immer wieder, und es ist falsch. Natürlich ist richtig, dass bei den Grundrechtseingriffen immer auch untereinander eine Abwägung stattfinden muss. Allerdings erklärt der Bundesdatenschutzbeauftragte auch ständig, dass ihm noch keine politische Idee vorgelegt wurde, bei der der Datenschutz in irgendeiner Weise problematisch sei. Dann könnte man ja darüber ernsthaft diskutieren, welche Abwägung man treffen sollte. Ich habe den Eindruck, der Hinweis auf den Datenschutz wird andauernd als billige Ausrede verwendet, um von dem eigenen Dilettantismus abzulenken.

 

Doch die FDP war immer sehr dafür, die Daten zu verteidigen… man erinnere sich nur an die Vorratsdatenspeicherung…

 

Ja, und dabei bleibt es auch.

 

Könnte also datensichere Nachverfolgung ein wesentlicher Beitrag auf dem Schritt zurück zur Normalität werden?

 

Ja, selbstverständlich. Es wäre ein Baustein von mehreren. Die aktuelle politische Linie des Kanzleramtes hat sich ja von einer differenzierten Problembewältigung verabschiedet und auf die sehr einfältige Öffnen-Schließen-Strategie versteift. Von der Corona-Warn-App redet dort keiner mehr.

 

An der tschechischen Grenze häufen sich die Hotspots. Sie haben gerade in einem Interview mit der „Welt“ gesagt, dass Menschen aus Hof ja nicht zum Essen nach Schleswig führen. Das heißt also, man wird mit regionalen Unterschieden in der Pandemie leben müssen?

 

Das ist so, ja. Das hat das Bundesverfassungsgericht in einer seiner seltenen Entscheidungen zu Beginn der Corona-Krise im April bereits so erklärt. Die Grundrechtseingriffe müssen immer verhältnismäßig sein. Deshalb – um mal ein sehr plakatives Beispiel zu geben – können Sie zum Beispiel nicht das gesamte öffentliche Leben auf einer Nordseeinsel schließen, wo es nachgewiesenermaßen keine Corona-Fälle gibt, wenn in einem Altenheim in Bayern ein Ausbruch geschieht. Selbst innerhalb eines Landkreises kann ein grundsätzlicher Lockdown unverhältnismäßig sein, wenn es dort in einem Schlachthof eine Häufung von Corona-Fällen gibt. Das hat zum Beispiel das OVG Münster im Falle Tönnies entschieden. Außerdem steht es so im Infektionsschutzgesetz. In § 28a Absatz 3 heißt es: „Die Schutzmaßnahmen sollen unter Berücksichtigung des jeweiligen Infektionsgeschehens regional bezogen auf die Ebene der Landkreise, Bezirke oder kreisfreien Städte an den Schwellenwerten (…) ausgerichtet werden.“

 

Das ist ein klares Ja zu Stufenplänen?

 

Ja, logisch. Anders wäre es gar nicht möglich. Die FDP im Deutschen Bundestag hat hier schon vor einiger Zeit ein entsprechendes Modell vorgelegt. Und schon davor haben wir in Schleswig-Holstein einen Perspektivplan in der Jamaika-Koalition beschlossen. Das wichtigste ist doch, dass die Menschen Planungssicherheit erhalten und klare Kriterien, was wann und unter welchen Bedingungen wieder öffnen kann. Die Unsicherheit, welche neuen Verbote bei der nächsten Runde der Kanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten ausgeheckt werden, macht die Menschen mürbe.

 

Somit könnte es an der tschechischen Grenze den Lockdown geben, während an der Küste zeitgleich das Leben brodelt? Wäre ein solches Szenario rechtlich haltbar?

 

Das wäre sicherlich ein Extremfall, der nur in der Theorie und nicht in der Wirklichkeit stattfinden wird. Über theoretische Modelle muss ich mir aber nicht den Kopf zerbrechen.

 

Was heißt das eigentlich für Europa, wenn man wieder Grenzen schließt?

 

Vor einigen Monaten hieß es noch, es werde nicht mehr passieren, dass man Grenzen schließt. Jetzt ist es in Teilen wieder soweit. Auch wenn ich nachvollziehen kann, dass die Staaten zuerst ihre eigene Bevölkerung schützen wollen, bereitet es mir große Sorgen, wie der europäische Gedanke derzeit unter Druck gerät. Nicht zuletzt die Impfstoffbeschaffung durch die EU-Kommission wirkt sich katastrophal aus. Boris Johnson hat einfach deutlich besser verhandelt als Ursula von der Leyen – mit dem Ergebnis, dass die Menschen fragen: Warum genau sollten wir unsere nationalen Kompetenzen eigentlich an Brüssel abtreten? Die Kommissionspräsidentin hat dem Zusammenhalt in der EU damit einen Bärendienst erwiesen.

 

Ist der Föderalismus in dieser Pandemie hinderlich? Oder geraten gerade Kanzler-Kandidaten in die Bredouille zwischen Wahlkampf und landesväterlicher Sorge?

 

Ich weiß, Sie haben in Bayern an Ihrem Ministerpräsidenten schwer zu tragen. Bei Markus Söder habe ich tatsächlich den Eindruck, dass die persönliche Ambition sein politisches Wirken dominiert. Er hat sich selbst schon ziemlich gern und das lässt er auch Armin Laschet wissen. Vor allem frage ich mich: Warum fährt er immer wieder als einziger quer durch Deutschland, um in Berlin im Nebenzimmer an der Schaltkonferenz der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten und an der anschließenden Pressekonferenz teilzunehmen? Er verlangt von den Menschen, Kontakte zu reduzieren und erhöht selbst diese Kontakte, wenn er es für richtig hält. Diese Doppelmoral nervt einfach. Das zeigt, dass für ihn nicht gilt, was er von anderen einfordert. Alles nur, weil er selbst eine wichtigere Rolle in der Bundespolitik spielen will. Das ist schon bitter, vor allem für all jene, die unter den Kontaktreduzierungen leiden.

 

Während Europa zaudert, zelebriert Boris Johnson seine Impfstrategie. Ärgert Sie das?

 

Ich kann Boris Johnson verstehen. Nachdem auch aus Berlin im vergangenen Sommer Signale gekommen sind, dass Johnson angeblich ein aufgeblasener Wichtigtuer sei, der Corona verharmlose, ist dieser Spin doch überraschend. Dass er jetzt eine gewisse Genugtuung verspürt, ist menschlich.

 

Der Impfstart in Europa und der Bundesrepublik war von traurigen Erkenntnissen geprägt. Nun gibt es den Impfstoff Astrazeneca, der ein Akzeptanz-Problem hat, Impftermine werden großflächig nicht wahrgenommen. Ist das für Sie nachvollziehbar?

 

Nein, ich würde mich auch mit AstraZeneca impfen lassen. Für meine Altersklasse ist der Stoff aber nicht zugelassen. Ich finde, dass dieser Impfstoff über die Hausarztpraxen verteilt werden sollte. Er ist deutlich leichter zu lagern und könnte viel schneller an den Mann und die Frau gebracht werden. Es ist ein unbefriedigender Zustand, dass wir Millionen von Impfdosen vorrätig haben, die aber nicht zügig verabreicht werden. Das Ende der Beschränkungen erreichen wir deshalb später.

 

Dennoch: Werden Geimpfte künftig mehr dürfen – „lockerer“ sein im öffentlichen Leben - als Ungeimpfte?

 

Ja, das sieht unsere Verfassung so vor. Da kann man vielleicht eine andere Meinung haben, am Ende ist das aber nicht ausschlaggebend. Die Geimpften, wie übrigens auch die Genesenen, fallen dann als sogenannte „Störer“ aus, von ihnen geht also kaum noch eine Gefahr für andere aus. Sie müssen ins normale Leben zurückkehren können. Ich höre die ganze Zeit, die Geimpften sollten solidarisch sein mit den Noch-nicht-Immunisierten. Es muss genau andersherum gelten. Vor allem die Älteren und Kranken sollten zuerst wieder ins normale Leben zurück.

 

Womit wir wieder bei den Grundrechten wären. Sie kritisieren, die Bundesregierung habe die Grundrechte im vergangenen Jahr nicht immer sorgsam beachtet. Was stört Sie am meisten?

 

Dass die Parlamente noch immer in der Zuschauerposition sind, stört mich am meisten. Alle zwei bis drei Wochen erleben wir das immer gleiche Ritual: Es dringen Meldungen aus dem Kanzleramt, was nun für neue Verbote und Beschränkungen drohen. Ein Schreckensszenario baut sich auf, dann positionieren sich einige Ministerpräsidenten. Es wird ein Papier erstellt, bei dem sicher keine Verfassungsjuristen am Werk waren, und am Ende darf das Parlament höchstens im Nachgang gerne über alles reden – aber nichts entscheiden. Ich sage es immer wieder: Die Schalte der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten ist von der Verfassung nicht als rechtsetzendes Gremium vorgesehen. Faktisch geschieht aber genau das. Beim letzten Mal hat sich die Runde einfach über das Infektionsschutzgesetz gestellt und erklärt, alle beschränkenden Maßnahmen müssten bis zur Inzidenzzahl 35 beibehalten werden. Das ist der Aufruf zu einem Rechtsbruch, denn die Maßnahmen müssen zwischen der Inzidenzzahl 50 und 35 eine geringere Eingriffstiefe haben. So sieht es das Gesetz zwingend vor.

 

Angela Merkel tritt nicht mehr zur Bundestagswahl an. Hat sie in der Pandemie noch das Heft in der Hand – oder ist ihre Stufenplan-Ankündigung schon der Hinweis auf die Kanzlerinnen-Dämmerung?

 

Ich glaube, die Art der Merkelschen Amtsführung hat sich mittlerweile überlebt. Die Menschen merken, dass in den vergangenen Jahren viel zu viel liegengeblieben ist. Deutschland hat nicht mehr den Fortschrittsgeist, den es noch vor Jahren hatte – was vor allem an den politischen Rahmenbedingungen liegt. Wenn wir im Jahr 2021 noch immer per Fax unsere behördliche Kommunikation gestalten, dann leuchtet jedem ein: Es wird Zeit für einen Wechsel.

 

Das Gespräch führte Kerstin Dolde.