Wolfgang Kubicki

Gastbeitrag Neue Zürcher Zeitung: Die amerikanischen Verhältnisse müssen uns eine Warnung sein

„Eine Partei ist kein Mädchenpensionat“, sagte Willy Brandt einmal Ende der 1960er Jahre, damals Vorsitzender der SPD. Für heutige Verhältnisse mag dieses Zitat chauvinistisch klingen, sein inhaltlicher Kern lässt sich aber sicher auf unsere aktuelle Debattenkultur übertragen. Wer nach draußen geht und seine Gedanken vorträgt, begreift schnell, dass er sich ein dickes Fell wachsen lassen muss, um nicht untergepflügt zu werden. Gerade die Corona-Pandemie hat in Deutschland eine Entwicklung beschleunigt, in der Wut, Hass und Denunziation fröhliche Urständ feiern, in der Respektlosigkeit und Unfairness als legitime Umgangsformen gesehen werden und in der viele in einer Lagerbildung und Wagenburgmentalität einen psychologischen Halt suchen und finden. So versammeln sich Menschen, die dem Charité-Virologen Christian Drosten das wissenschaftliche Alleinvertretungsrecht zuschreiben, und verbreiten den Hashtag #SterbenmitStreeck, weil der Bonner Kollege als Drostens Counterpart gilt und damit angeblich als gemeingefährlich abgestempelt werden kann. Drosten selbst wiederum bekam von anderen schreckliche Morddrohungen. Im Zweifel wird die Menschenwürde hintangestellt, wenn es darum geht, triumphierend aus einer Diskussion zu kommen.

 

Wir erleben bei vielen Auseinandersetzungen in Sozialen Medien, dass die individuelle Selbstbehauptung zur Maxime der öffentlichen Debatte wird. Man benötigt am Ende nur die Claqueure der eigenen Blase, die einem ungeteilt Zustimmung geben. Ein Austausch zwischen verschiedenen Positionen, ein Ringen ums bessere Argument, geschweige denn ein durch Diskussionen erzielter Fortschritt, finden so aber nicht mehr statt. Die Spaltung der Gesellschaft, vor der immer gewarnt wurde, ist in Teilen Realität. Wenn die Worte nicht mehr ausgetauscht werden, werden es irgendwann die Fäuste sein. Das gilt nicht nur in Deutschland: Die amerikanischen Verhältnisse sollten uns eine Warnung sein.

 

Hinzu kommt, dass rechtsstaatliche Erwägungen und verfassungsrechtliche Fragen immer häufiger politischen Nützlichkeitserwägungen unterworfen werden. Viele Dutzend Urteile von Ober- und Verfassungsgerichten, die exekutive Corona-Maßnahmen im vergangenen Jahr aufhoben, zeigen zwar glücklicherweise, dass die Judikative letztlich über die Wahrung des Rechtsstaates wacht. Gleichwohl muss es einen Liberalen besorgen, wie leichtfertig die Bundesregierung und einige Landesregierungen unsere Rechtsordnung übertreten haben und damit das fatale Signal aussendeten: Die verfassungsrechtlichen Leitplanken werden solange akzeptiert, wie sie dem eigenen politischen Willen nicht im Wege stehen. Die rechtlich fragwürdige und vollkommen willkürliche „Corona-Leine“ von 15 Kilometern ist nur ein Zeugnis dieser Denkweise.

 

Nehmen wir diese und andere Erfahrungen des Jahres 2020 zusammen, können wir mit Blick auf das noch junge Jahr 2021 konstatieren: Es stand schon einmal besser um die offene Gesellschaft, um den Freiheitsgedanken und um unsere freiheitliche Ordnung in Deutschland. Oder noch etwas schärfer formuliert: Ich kann mich an keine Phase der bundesrepublikanischen Geschichte erinnern, in der der Verzicht auf unsere Freiheitsrechte von relevanten Teilen der Öffentlichkeit derart euphorisch beklatscht wurde, wie derzeit.

 

Die Auseinandersetzung mit Corona hat eine gesellschaftliche Spaltung begünstigt, die sich durch viele Ebenen zieht. Für manche kann der Lockdown zum Beispiel gar nicht hart genug sein. Während die einen in Kurzarbeit gedrängt werden oder vor den Scherben ihrer beruflichen Existenz stehen, fordern meistens diejenigen härteste Grundrechtsbeschneidungen, die hiervon am wenigsten betroffen sind. Menschen, die ihr Gehalt regelmäßig weiter bekommen oder auch manche Journalisten, bei denen die apokalyptische Lust so groß ist, weil sie als Privilegierte trotzdem weiter auf die leere Straße gehen dürfen, um darüber zu berichten.

 

Zwar ergeben Umfragen noch eine Mehrheit für die Politik der Bundesregierung. Wer sich allerdings in seinem unmittelbaren Umfeld umhört, stellt fest, dass der Firnis der Einhelligkeit doch ziemlich dünn ist. Der Blogger Sascha Lobo brachte es vor kurzem auf den Punkt: Ein großer Teil der deutschen Regierungspolitik unterschätze „die Vollheit der Schnauze der Leute, die weder Corona verharmlosen noch gegen wirksame Schutzmaßnahmen sind. Leute, die eine Pandemie-Politik und eine Corona-Kommunikation erwarten, die den Möglichkeiten dieses reichen, eigentlich gut funktionierenden Landes halbwegs gerecht wird.“ Der Unmut zieht langsam, aber machtvoll in die politische Mitte – also dorthin, wo die Corona-Disziplin bislang noch immer am größten war.

 

Es wird klar, je größer die Zahl der Unzufriedenen wird, umso weniger geht die bisherige Strategie einiger politischer Akteure auf, diese Menschen aus dem öffentlichen Diskurs auszugrenzen. Wer die intellektuell reichlich einfältige Bezeichnung „Covidioten“ oder die Klassifizierung „rechtsradikal“ als legitime Charakterisierungen für sämtliche Kritiker der Corona-Maßnahmen wähnt, der muss erleben, dass dieses Stilelement am Ende nicht nur stumpf wird, sondern wie ein Bumerang gnadenlos zurückkommt. Denn dann drängt sich unaufhaltsam der Eindruck auf, dass die Diskreditierung von Menschen als billiger Ersatz für eine seriöse und lösungsorientierte Politik verwendet wird. Es ist zwar leichter, „die Leute“, die sich angeblich an den Glühweinständen tummelten, für die Corona-Toten verantwortlich zu machen. Es wirft aber die Frage zurück, was „die Politik“ bisher in ihrem Aufgabenfeld unternommen hat, um diese Toten zu verhindern – wer eigentlich die politische Verantwortung für die monatelange Nicht-Verteilung von FFP2-Masken an Ältere trägt, für die monatelange Nicht-Testung des Personals in Altenheimen und für die völlig unzureichende Versorgung mit Impfdosen. Und wenn die Menschen erleben, dass diese politischen Unterlassungen dann mit härteren Maßnahmen und noch tiefer greifenden Eingriffen in die persönliche Sphäre jedes einzelnen beantwortet werden, treiben politische Entscheidungsträger einen tieferen Keil in die liberale Gesellschaft.

 

Durch die fehlenden Begründungen für diese Einschnitte wird die Bekämpfung der Pandemie zur Glaubensfrage. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, sich in Kunstausstellungen anzustecken, fast null. Geschlossen wurden sie trotzdem, aus Solidarität. Das Robert Koch-Institut stellte fest, die Gastronomie sei kein Infektionstreiber, trotzdem mussten die Betriebe schließen. Während in der einen Situation die Worte des RKI als sakrosankt angesehen werden, werden sie an anderer Stelle, wenn nötig, ignoriert. Die Menschen sahen, dass Irland einmal als leuchtendes, anschließend als warnendes Beispiel für Deutschland bezeichnet wurde – beide Male frei von wissenschaftlicher Evidenz. Der bloße Glaube an die Richtigkeit der Maßnahmen lässt Kritik dann wie Häresie erscheinen. Die freie Gesellschaft, die auf den Errungenschaften der Aufklärung entstand, sieht sich plötzlich mit mittelalterlichen Erklärungsmustern konfrontiert.

 

Zu Beginn des Wahljahres 2021 ist die offene Gesellschaft also geschlossener, als es mir als Liberalem lieb sein kann. Es wird eine große Kraftanstrengung aller demokratischen Parteien notwendig sein, den öffentlichen Diskurs wieder in verträgliche Bahnen zu lenken. Niemand will Verhältnisse wie in den USA, wo die Sprachlosigkeit oft nicht mehr friedlich überwunden werden kann. Die geistigen Wirrungen, in denen wir uns befinden, können wir nur mit den Klassikern des demokratischen Zusammenlebens begegnen. Respekt fürs Gegenüber, Offenheit für andere Sichtweisen und der Unterstellung, dass es auch dem anderen um die Sache geht. Gelingt uns dies nicht, werden sich gesellschaftliche Konflikte nicht mehr friedlich entladen.