Die Opfer haben eine Entschuldigung verdient
Aus der schrecklichen Terrorattacke von Solingen könnten wir nicht viel lernen, sagte Saskia Esken am Wochenende. Zu Terrorzeiten unter Helmut Schmidt hätte man im Angesicht solcher Äußerungen irritiert gefragt: Wer ist Saskia Esken und was erzählt sie da? Heute, im Jahre 2024 und knapp fünf Jahrzehnte nach dem „deutschen Herbst“, ist sie die Nachfolgerin von Kurt Schumacher und Willy Brandt.
Wer von Wut, Zorn oder Angst und Ohnmacht durch den islamistischen Terrorangriff von Solingen bewegt ist, der wird es nur schwer ertragen können, dass der politische Betrieb schon seit Jahren mit dem Einfühlungsvermögen eines automatisierten Zettelkastens auf solche Taten reagiert. Der Täter müsse die volle Härte des Rechtsstaates spüren, wir stehen zusammen, wir lassen uns nicht spalten, es war ein Angriff auf uns alle, die Täter kriegen unsere Angst nicht, und so weiter. Diese Erklärungen, die eigentlich Mitgefühl, selbstbewussten Trotz oder Tatkraft signalisieren sollen, werden im Lichte der Fülle der Ereignisse von Mal zu Mal schaler und wirken immer hilfloser – weil am Ende oftmals nichts Substanzielles passiert. Wer als politischer Verantwortungsträger aber nicht begriffen hat, dass die Menschen im Land nicht mehr rhetorischen Balsam oder Scheinlösungen, sondern echte Heilung haben wollen, der sollte nicht den Anspruch haben, als Volksvertreter aufzutreten.
Wirklich jeder weiß, dass die Ausweitung von Messerverboten keine Menschenfeinde von ihrer Tötungsabsicht abbringen werden, es wird aber genauso vom Bundeskanzler und seiner Innenministerin suggeriert. In welcher realitätsarmen Welt leben wir eigentlich, dass höchste politische Entscheidungsträger meinen, die Menschen im Land würden ihnen diesen Unsinn abkaufen und anschließend sagen: Ich fühle mich jetzt viel sicherer – denn die Aussicht, eine Ordnungswidrigkeit zu begehen, schreckt den Bösewicht ausreichend ab?
Selbstverständlich muss es das Ziel sein, die offene Gesellschaft zu bewahren, wie es manche Kommentatoren fordern. Im Angesicht von Weihnachtsmärkten, die nur noch durch tonnenschwere Poller geschützt werden können, von Public-Viewing-Zonen, die wie die britischen Kronjuwelen bewacht werden, darf man aber die Frage stellen, ob die Freiheit nicht doch schon zentimeterweise gestorben ist, wie es mein früherer Parteivorsitzender Guido Westerwelle einmal mahnend prognostizierte. Wollen wir uns mit dieser Entwicklung abfinden und gegebenenfalls unter dem Schock weiterer, schwerer Taten zu weiteren Einschränkungen unserer freien Lebensweise zwingen lassen? Oder gehen wir neun Jahre nach dem September 2015 endlich in die bittere und schonungslose Analyse, dass es schwerwiegende politische Fehler gegeben hat, die uns in diese Lage gebracht haben?
Dass unser gemeinsames Leben, unsere Freiheit und unser Sicherheitsgefühl so aussehen, wie sie jetzt aussehen, basiert zum großen Teil auf politischen Entscheidungen. Und es ist Zeit, dass – abseits der konkreten behördlichen Verantwortlichkeiten im Einzelfall – jemand für die Bundesrepublik Deutschland Verantwortung übernimmt und sich bei den Opfern und ihren Angehörigen für das staatspolitische Versagen entschuldigt.
Allein in den vergangenen Monaten sind in Deutschland Menschen zu Tode gekommen, weil es die staatlichen Stellen nicht vermocht haben, ihre Aufgabe zu erfüllen. Der Tod von Philippos T. in Bad Oeynhausen wurde von einem Jugendlichen herbeigeführt, der eine dicke Polizeiakte hatte und trotzdem frei herumlaufen konnte. Warum wurde dieser nicht vorher aus dem Verkehr gezogen? Eine Kette des Behördenversagens begünstigte auch die tödliche Messerattacke im Januar 2023 auf zwei Jugendliche in einem Regionalzug in Brokstedt. Und auch beim Attentat von Solingen legen die derzeit verfügbaren Informationen sehr nahe, dass der Täter gar nicht mehr in Deutschland sein durfte, hätten die Behörden sachgerecht gearbeitet. Während die harte behördliche Hand sogar beim Parken auf dem Grünstreifen vor dem eigenen Haus gnadenlos zuschlägt, heißt es bei schwersten behördlichen Versäumnissen mit Todesfolge: Ist halt so, oder: die Messer sind schuld.
Wer soll diesem Staat mit Respekt begegnen, wenn die obersten Repräsentanten in solchen Situationen nicht erklären, dass dieser auch eine Bringschuld zu leisten hat. Unser Staatswesen ist kein seelenloses Kunstgebilde, sondern basiert auf der Verantwortungsgemeinschaft der in ihm lebenden Menschen. Wird er seiner Verantwortung für den Schutz der Menschen, der Freiheit und inneren Sicherheit nicht gerecht, dann können die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass ein Repräsentant für diesen Staat öffentlich einsteht und sich namens der Bundesrepublik Deutschland entschuldigt.
Dies tue ich hiermit. Als Vizepräsident des Deutschen Bundestages entschuldige ich mich in staatspolitischer Verantwortung für das behördliche Versagen, das zahlreiche tödliche Angriffe auf Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland überhaupt erst ermöglicht hat. Die Menschen im Land können erwarten, sich ihrem Land frei und ohne Angst um das eigene Leben zu bewegen. Sie können erwarten, dass die Behörden die ihnen zugeschriebene Aufgabe erfüllen. Und sie können erwarten, dass alle politischen Entscheidungsträger um ihre Verantwortung für dieses Gemeinwesen wissen.