Wolfgang Kubicki

Wie kommen wir da raus?

Foto Tobias Koch

Sehr geehrte Anne Will,

 

als mich der „Focus“ freundlich gebeten hat, Ihnen einen Brief zum „Abschied“ zu schreiben, habe ich selbstverständlich zugesagt. Ich dachte, da ich die Ehre hatte, Ihrer Sendung auch ein paar Male beizuwohnen, wäre es angebracht, einmal etwas zurückzugeben.

 

16 Jahre lang haben Sie die erfolgreichste Talksendung Deutschlands durch die Höhen und Tiefen der Bundes- und Weltthemen geleitet, haben damit prägenden Einfluss auf die öffentlichen Debatten im Land gehabt. Sie haben die Zeiten von Finanzkrise, Migration, Corona, Krieg und Zeitenwende stets mit den Mächtigen des Landes verbracht – was, so viel kann ich sagen, nicht immer mit Schmerzensgeld ausreichend abgegolten werden kann.

 

Und was wäre aus Deutschland geworden, hätte sich der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, Friedbert Pflüger, einmal durchgesetzt? Dieser forderte im Sommer 2008 die Absetzung Ihrer Sendung wegen angeblicher Fake News. Wäre es nach Pflüger gegangen, dann hätte Deutschland heute wahrscheinlich keinen Gesundheitsminister namens Lauterbach, der in Ihrer Sendung kurz vor Ausrufung des Kabinetts Scholz in einem bemerkenswerten Akt sektiererischer Heldenanbetung auf den Ministersessel geradezu getragen wurde.

 

Beachtenswert zugleich: Während 2008 die Verbreitung von Falschbehauptungen noch zu öffentlichen Demissionsforderungen führen konnte, beweist die Berufung des Gesundheitsökonomen zum Gesundheitsminister, dass Vergleichbares heute sogar für Höheres qualifizieren kann. So ändern sich die Zeiten.

 

Böse Zungen behaupten, nach dem Rücktritt von Jogi Löw sei nun mit dem Ende Ihrer Sendung auch faktisch die Ära Merkel beendet. Dies weise ich empört zurück. Denn der dahinterstehende Vorwurf, Sie hätten das Regierungsnarrativ oftmals ohne große Gegenwehr verbreitet, kann doch eigentlich nicht wahr sein. Gut, Angela Merkel ist zwar immer dann zu Ihnen ins Studio gekommen, wenn sie sich wegen großen politischen Drucks glaubte, auch einmal für ihre Politik rechtfertigen zu müssen – so zum Beispiel in der Migrations- oder der Corona-Politik. Oder als sie ihre Kanzlerkandidatur für 2017 verkünden wollte, als Garantin für Stabilität, weil die Welt wegen Trump so unsicher geworden war.

 

Und dass Sie sie stets ohne parlamentarische Gegenwehr in der Sendung sprechen ließen? Okay, das könnte man vielleicht als latente Missachtung der Volksvertretung missverstehen. Aber wenigstens haben Sie die Kanzlerin mit Ihren fragenden Einwürfen nicht zu sehr beengt, als sie im März 2021 schon mal angekündigt hat, massive Grundrechtseingriffe im Zweifel auch ohne die gebotene Begründung durchzudrücken. Und Sie haben in derselben Sendung mit der nötigen kritischen Distanz erklärt, Merkel habe „zu Recht großen, großen Respekt erfahren“, als sie öffentlich eingestehen musste, dass sie mit dem Vorstoß der „Osterruhe“ eine kolossale politische Dummheit begangen habe. So viel Journalismus muss sein!

 

Der Vorwurf der Regierungsnähe geht auch deshalb ziemlich fehl, weil dies ja bedeuten würde, nicht nur Kanzlerin oder Kanzler, sondern auch andere Regierungsmitglieder würden ähnliche Vorzugsbehandlungen erhalten. Zugegeben, Vizekanzler Robert Habeck durfte sich im Juni dieses Jahres 39 Minuten allein für sein völlig verkorkstes Gebäudeenergiegesetz verteidigen. Und ja, anschließend wurde ihm die Konfrontation mit der Opposition erspart. Aber warum sollte man auch nicht einmal das eigene Sendungskonzept über Bord werfen, wenn man mit Robert Habeck sprechen darf?

 

Ich gestehe, ich habe Ihre Sendung in den vergangenen Monaten immer seltener geschaut. Vielleicht deshalb, weil die Debatten immer weniger überraschend geworden sind. Vielleicht, weil der Erkenntnisgewinn immer geringer wurde. Vielleicht auch, weil Sie für mich irgendwann den früheren Glanz der absoluten Neutralität verloren haben.

 

Als durchaus politisch interessierter Konsument entsprechender TV-Formate vermisse ich die Spannung, die in Diskussionen entstehen kann, wenn es Menschen um die Sache geht. Und ich vermisse Moderatoren, die weder der einen noch der anderen Seite emotionalen Rabatt geben und auf diesem Wege dafür sorgen, dass jedes Argument die gleiche Chance hat.

 

Vor diesem Hintergrund halte ich die Spaltung der Gesellschaft auch für ein Problem, dem sich die politischen Talkshows heute stellen müssen. Es steht zu befürchten, dass die Landtagswahlen im kommenden Jahr noch einmal dramatisch offenlegen werden, dass sich der öffentlich-rechtliche Polit-Talk in einer festen Blase bewegt und inzwischen große Teile der Bevölkerung nicht mehr erreicht, nicht mehr versteht oder gar ausgrenzt. Es treibt mich um, dass Journalisten mittlerweile nicht nur im Querdenker- oder Rechtsradikalen-Milieu, sondern in einigen Landstrichen auch von größeren Bevölkerungsteilen zu einer vermeintlichen Berliner Polit-Elite gezählt werden, gegen die man „Protest“ wählen will. Es liegt auf der Hand, dass sich die Rolle „des“ bundesdeutschen Journalismus in den letzten Jahren verschoben hat – insbesondere seit 2015, verstärkt mit der Corona-Pandemie – und sich damit die entsprechende Konfrontationslage verschärft hat. Weil wir alle vermeiden wollen, dass wir ein Demokratieproblem bekommen, sollten wir uns selbstkritisch fragen: Wie kommen wir da wieder raus?

 

Trotz alledem wünsche ich Ihnen persönlich, dass Sie sich für die Zeit nach „Anne Will“ mehr Zeit für Anne Will leisten können. Caren Miosga wird jetzt die neue „Tatort“-Reinigerin und ich glaube, sie wird ihre Aufgabe mit der nötigen Demut und mit Selbstbewusstsein angehen.

 

Zum Schluss möchte ich Ihnen persönlich die weisen Worte eines meiner Abgeordnetenkollegen weitergeben: „Man lebt nur einmal. Und wenn man es richtig macht, reicht das auch.“

 

Herzliche Grüße

Ihr Wolfgang Kubicki